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Ausland
Werner Pirker
Das System Berlusconi
Aufregung um italienischen »Justizskandal«
Ein »Skandalurteil« erregt Italien. An die Spitze der Erregten hat sich Silvio Berlusconi gestellt. »Diese Justiz ist verrückt, das System ist wahnsinnig geworden«, ließ der Premier seinen Aversionen gegen die dritte Gewalt freien Lauf. Das ist der eigentliche Skandal.
Das Urteil eines Berufungsgerichtes in Perugia - je 24 Jahre für den siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti und den Mafiaboß Tano Badalamenti - mutet tatsächlich etwas seltsam an. Die beiden waren gemeinsam mit zwei Mafiakillern der Ermordung eines Journalisten angeklagt. Andreotti und Badalamenti sollen die Auftraggeber gewesen sein - was das Gericht als erwiesen ansah. Die Auftragnehmer kamen wegen Mangels an Beweisen frei. Die Umkehrung eines uralten Rechtsgrundsatzes - die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen - hat das Gerechtigkeits- empfinden der Nation tief getroffen. Den Richtern von Perugia wird ferner angelastet, das erstinstanzliche Urteil von Palermo aufgehoben zu haben, ohne daß neue Beweise vorgelegen hätten.
Andreotti und der Mafiapate waren von mehreren Renegaten der ehrenwerten Gesellschaft schwer belastet worden. Der Christdemokrat mit dem Dackelblick soll 1979 in Auftrag gegeben haben, den Journalisten Mino Pecorelli für immer zum Schweigen zu bringen. Diesem hätten nämlich Beweise vorgelegen, daß Andreotti die Befreiung seines parteiinternen Gegenspielers Aldo Moro aus der Gefangenschaft der Roten Brigaden verhindert habe. Zu den Zeugen der Anklage zählte Tommaso Buscetta, jener abtrünnige Mafiaboß, dessen Aussagen Anfang der 1990er Jahren genügten, die Führungsschicht der Cosa Nostra aus dem Verkehr zu ziehen.
Im Fall Andreotti aber erschien er dem Gericht von Palermo als unglaubwürdig.
Denn hier geht es um die Aufdeckung der Verschmelzung von politischer Macht und kriminellen Strukturen zur kriminellen Macht. Diese wurde von den »Richtern mit den sauberen Händen« zu Fall gebracht. Im System Berlusconi findet sie ihre Fortsetzung - wenn auch unter anderen strukturellen Voraussetzungen. In ihm hat das gegenseitige Dienstverhältnis zwischen politischen Eliten und krimineller Schattenökonomie seine dialektische Aufhebung gefunden. Berlusconi ist der Inhaber des Monopols, das aus der Konkurrenz zwischen den kriminellen Einzelkapitalien entstanden ist.
Dieses oligarchische System beruht auf der Privatisierung aller gesellschaft- lichen Sphären: der Ökonomie, der Politik, der Medien und der Justiz. Noch hält die Justiz dagegen und will sich dem Neoabsolutismus nicht völlig ausliefern. Der Widerstand gegen Berlusconis Justizreform ist zum Kernpunkt der gesell- schaftlichen Auseinandersetzung geworden. Das paradoxe Urteil von Perugia war freilich ein Steilpaß für den Oligarchen, den er zum Angriff auf seine »wahnsinnig gewordenen« Gegner nutzt.
Unter dem Beifall des Publikums spielt Berlusconi die »verrückte Justiz« an die Wand. Ihr soll vorgeführt werden, daß sie künftig Berlusconi-Recht zu sprechen und sämtliche gegen den Monarchen gerichtete Verfahren wegen Bestechung und Finanzfälschung einzustellen hat. Das Urteil gegen einen Altkorruptionisten hat dem Neokorruptionismus Auftrieb verliehen.
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