Frankfurter Rundschau 20 11 02

Die richtigen Worte zur richtigen Zeit (1)

Michaela Seidel, von den Medien zur Schulsprecherin des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums gemacht, über Hinfallen und Aufstehen

Von Bernhard Honnigfort

S ie ist nicht wiederzuerkennen. Sie trägt die Haare ganz anders, schwarz und rot. Früher waren sie blond. Eine junge, hübsche, sportliche Frau sitzt da in einer Ecke eines Erfurter Cafés und isst ein Wiener Schnitzel. "Dass sich jemand für mein Leben interessiert . . .", sagt sie. Und auf die Frage, wie es ihr geht: "Ich hoffe, dass 2003 besser wird."

Sieben Monate ist es her, da war diese junge Frau für einen Moment berühmt. Da ging ihr Bild um die Welt. Damals, nach dem schrecklichen Freitagvormittag, als Robert Steinhäuser in seiner alten Schule 16 Menschen und sich selbst umgebracht hatte. Wer die Tage danach in Erfurt erlebt hat, weiß es noch: Thüringens Landeshauptstadt war ein bisschen mit gestorben. Die Menschen weinten. Tausende zogen mit Blumen und Kerzen durch die Innenstadt zum Gutenberg-Gymnasium oder zum Rathaus. Das Leben war erstarrt. Als wäre die Zeit vor Entsetzen stehen geblieben. Zwei lange Tage lang.

Robert Steinhäusers Tat hatte sprachlos gemacht. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte in der Stadt und mit dem Gymnasium: Sollte man die Schule schließen? Sollte man ein Mahnmal errichten, irgendwann einmal? Was war mit den Abiturprüfungen? Wohin mit den Gutenberg-Schülern, solange die Polizei das Gebäude untersuchte? Was war mit den anderen Schulen? Wie sollte man Schüler und Lehrer in Zukunft vor Amokläufern schützen?

Am Sonntag danach waren Schüler, Eltern und Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums im Rathaus. Der Sonntag war der Tag, an dem diese junge Frau namens Michaela Seidel ein wenig berühmt wurde, weil sie aussprechen konnte, was viele fühlten. 18 war sie damals. Sie war auch im Rathaus, und sie hatte sich zu Wort gemeldet, als Oberbürgermeister Manfred Ruge vorschlug, die Gutenberg-Gymnasiasten auf andere Schulen zu verteilen. Sie war dagegen, hatte es laut gesagt und Zustimmung bekommen von den anderen.

Am Mittag fragte der Oberbürgermeister, ob sie mitkommen wolle in eine Pressekonferenz. Journalisten aus aller Welt waren da. Gedränge, Aufregung, Kameras, Blitzlichter. Sie wurde gefragt, sie antwortete. Einfache, klare Sätze. Sie sagte: "Diese Schule hat Lehrer gehabt, die uns mit unseren Eltern zu den Menschen gemacht haben, die wir sind. Sie soll Menschen wieder ins Leben führen. Irgendwann wird dort hoffentlich wieder normaler Unterricht möglich sein." Und sie sagte: "Eine Schule ist eine Schule. Ein Gefängnis ist ein Gefängnis. Man kann nicht beides kombinieren." Über Robert Steinhäuser, der sich eine Kugel in den Kopf schoss, sagte sie: "Das ist das, was er verdient hat. Hass oder Mitgefühl wären für ihn noch eine Genugtuung. Er war ein kranker Mensch, was offenbar keiner gesehen hat. Ich möchte keine Gefühle gegen ihn hegen."

Nicht weniger und nicht mehr sagte sie. Die Journalisten notierten es, machten aus ihr die Schülersprecherin des Gutenberg-Gymnasiums, obwohl sie das nie gewesen ist. Sie war die Schülerin, die die richtigen Worte fand, als die meisten um sie herum weinten, als ganz Erfurt sprachlos war und die Politiker, der Kanzler, der Ministerpräsident und der Oberbürgermeister noch nach Worten suchten, um das Entsetzen zu beschreiben. Aber nicht nach Worten gegen das Entsetzen. Die Schülerin der zwölften Klasse war es, die Erfurt aus der Erstarrung befreite und Worte gegen den Schrecken fand: nicht unterkriegen lassen. Das Leben muss weitergehen. Danach hat sie geschwiegen. "Ja, so war sie", sagt Christiane Alt, die Rektorin des Gymnasiums. "Sie hat sich ein Herz gefasst und ausgesprochen, was die Mehrheit gedacht und gefühlt hat."

Nun sitzt Michaela Seidel im Café. Sie erzählt: Ihr Leben sei immer eine
Berg- und Talfahrt gewesen. Ihre Eltern trennten sich, da war sie zwölf.. Der Vater, ein Arzt, nahm sich das Leben, da war sie 15. Ihr Mutter zog nach Rostock, und sie blieb bei der Oma in Erfurt. "Ich bin immer allein zurechtgekommen", sagt sie. "Das musste ich sehr schnell lernen." Die vergangenen fünf Jahre seien nichts anderes gewesen als hinfallen und wieder aufstehen. Zwei Abtreibungen, die Trennung vom Freund. Kurz vor dem Schulmord überfiel sie ein Unbekannter, er wollte sie vergewaltigen. Sie schlug ihn, vertrieb ihn. Die Polizei hat den Täter nie ermittelt. Und dann der Amoklauf. "Ich scheine negative Dinge anzuziehen", sagt sie.





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