Frankfurter Rundschau 20 11 02
Die richtigen Worte zur richtigen Zeit (2)
Sie spielt mit dem Kreuzkettchen, das sie um den Hals trägt, raucht eine Zigarette nach der anderen. "Nach außen bin ich immer hart", sagt sie. Sie hat Robert Steinhäuser nicht gekannt und deshalb auch nichts geahnt. Im Geschichtsunterricht saßen sie weit auseinander, sie an der Wand, er am Fenster. Und in Ethik waren zwei Stühle zwischen ihnen. Sie sind sich nur im Unterricht begegnet oder manchmal im Flur. Sonst nie. Sie kann sich auch nicht erinnern, jemals mit ihm geredet zu haben. Höchstens ein "Hallo". Sie wusste seinen Namen. Er war da, aber er war fremd. "Er war so unauffällig", sagt sie. "Er war grundsätzlich desinteressiert."
Sie war in der Schule an jenem 26. April, schrieb in der Aula ihre Abschlussklausur in Mathematik. Als Steinhäuser kurz vor elf das Gebäude betrat, war sie draußen. "Ich bin zu doof für Mathe", sagt sie. Um halb zehn gab sie ihre Klausur ab. Am Ende sollte sie vier Punkte bekommen, eine Vierminus. Mit Freundinnen ging sie nach draußen, erst mal eine rauchen. Dann kehrte sie noch einmal in die Schule zurück, traf die stellvertretende Schulleiterin Rosemarie Hajna. Sie redeten über den geplanten Abi-Ball. Fünf vor elf ging Michaela Seidel ins Café Rüger um die Ecke, während Steinhäuser durch einen Nebeneingang die Schule betrat. Lehrerin Hajna wurde sein zweites Opfer.
Das Gutenberg-Gymnasium ist eine Baustelle, die Schule soll komplett verändert werden. Es wird noch ein bis zwei Jahre dauern. "Wir können doch nicht nur die Einschusslöcher wegmachen", sagt Schulleiterin Alt. Sie ist mit ihren 760 Schülern und Kollegen in eine Grundschule am anderen Ende der Stadt gezogen, solange die Bauarbeiten dauern. Wie alle, will sie zurück: "Das ist meine Schule, das Ding, was ich aufgebaut habe", sagt sie. Es könne nicht sein, dass "ein Steinhäuser", der so viele Menschen getötet und Angehörige ins Elend gestürzt habe, damit durchkomme. "Das kann nicht so stehen bleiben."
1991 hat Christiane Alt das Gymnasium übernommen. Es gab keine Schüler, es gab keine Lehrer, es gab nur ein leeres Haus. Sie machte die Pläne, teilte alles ein. Sie sagt es sehr schön: "Ich habe die Klassen komponiert." Christiane Alt ist 46 Jahre alt, und es ist ihr 25. Dienstjahr. Sie erzählt von ihrer Schule, von den Kollegen, die erschossen wurden. Von sich erzählt sie nur sehr wenig. Über den 26. April und die toten Kollegen sagt sie: "Ich kam mir amputiert vor, wie ein Torso. Und dann fängt man an zu kämpfen."
Im Fernsehen wirkte sie auch so: eisern und wortkarg, eine schmale Person, die nur aus Verantwortung zu bestehen schien, streng geschminkt. Wenn sie über das spricht, was vor ihnen liegt, sagt sie: "Es ist ein harter und steiniger Weg." Kollegen seien nicht so belastbar, Schüler litten unter Konzentrationsschwächen. Psychologen kümmern sich um Schüler und Lehrer, zwei Therapeuten, zwei Stunden lang pro Klasse und Woche. "Es ist manchmal schon des Guten zu viel", sagt sie, "die Kinder sind übergepflegt." Die von der Landesregierung auf ein Jahr angesetzte Therapie berücksichtige zu wenig den Einzelnen. Einige Eltern hätten ihre Kinder abgemeldet; sie wollten, dass sie wieder "normal" lernen. Christiane Alt ist optimistisch, sie will ihre Schule über den steinigen Weg führen. Sie weiß aber auch, dass sie nichts ungeschehen machen kann und dass ihre Schule immer "die Schule" sein wird. Doch Steinhäuser soll nicht triumphieren. "Eine Gemeinschaft, die so hart geschlagen worden ist, kann nur gemeinsam wieder auferstehen", sagt sie. "Wir wollen wieder nach Hause."
E inen Abiturball hat es in diesem Jahr nicht gegeben. Keine Feier wie sonst. Nur eine stille Stunde im Erfurter Kaisersaal, 72 Abiturienten mit Lehrern und Angehörigen. Alle 72 hatten bestanden. Auch Michaela Seidel mit 3,1. Sie trug reinen schwarzen Hosenanzug, darunter ein knallrotes T-Shirt. Zeichen für Trauer und dafür, dass das Leben weitergehe, sagt sie. "Ich war nie besonders gerne in der Schule, kam aber gut mit den Lehrern klar." Sie ist stolz darauf, wie jeder Abiturient in Deutschland die Prüfung bestanden zu haben, trotz der großen Schwierigkeiten. Michaela sei eine ganz Ehrliche, sagt ihre ehemalige Schulleiterin. Jemand, der sich keine Gedanken darüber mache, ob es Vor- oder Nachteile bringe, wenn er etwas sage. Jemand, für den die Schule Ersatz für Familie war. Jemand, der in seinem jungen Leben schon zu viele Abschiede erlebt habe. Was vielleicht erklärt, warum sie es war, die im Erfurter Rathaus die richtigen Worte fand.
Sie sitzt im Café. Sie hat aufgegessen. Sie hat lange erzählt. Wie es in ihrem Leben weitergehen wird, weiß sie nicht. Vielleicht wird sie mit dem Preis der deutschen Lutherstädte, dem "Unerschrockenen Wort", ausgezeichnet. Erfurts Oberbürgermeister hat sie nominiert. Daran denkt Michaela Seidel nicht. Sie ist gerade wieder hingefallen und muss aufstehen. In der Probezeit hat sie ihre Lehrstelle verloren, sie wollte Hotelfachfrau werden. "Der Chef war schwierig", sagt sie. Ihm habe das mit ihren schwarz-roten Haaren nicht gepasst. Nächstes Jahr will Michaela Seidel ein Studium anfangen. In Jena. Lehrerin will sie werden, Sport und Geschichte an Oberstufen unterrichten.
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