Mich begeistert schlicht und einfach, dass hier Gedanken zu lesen sind, die mir auch schon öfters gekommen sind, und die ich nicht in der Lage war dermaßen klar aufzuarbeiten.

Das "hinterher klüger" ist natürlich oder vermutlich ein rhetorischer Trick. Wahrscheinlich war auch Passet niemals ein Fan von Reagan oder Thatcher. Das oftzitierte Tulpenzwiebel-Beispiel aus 1637 zeigt doch, dass man mit falschen Hoffnungen eine Wirtschaft ankurbeln kann. Aber eine Hoffnung, die keine Substanz hat, kann nicht Bestand haben. Doch zweifellos ist es auch so, dass man mit der Dummheit großartige Geschäfte machen kann, auf absonderlichste Art. Aktuelles Beispiel: Ursprünglich sollten die "letzten Hemden", die für Schröder gespendet wurden, an karitative Organisationen gehen. Bis sich jetzt renomierte amerikanische Auktionshäuser meldeten und erklärten, am amerikanischen Markt sei aufgrund der politischen Spannungen Schröder-Bush ein gesteigertes
(politisches) Interesse an wertvollen Unikaten, an "letzten Hemden" mit persönlichen Widmungen (vergleichbar der Unterwäsche von Marilyn Monroe).

Weiteres Beispiel Semperit. Hier ist in den 80er Jahren das geschehen, was Passet beschreibt. Die neoliberale Marktwirtschaft treibt den Prozess der Deregulierung voran, zerstört Unternehmen, zerstört gewachsene Strukturen und die damit verbundenen Ressourcen, um freies Kapital zu gewinnen, das vermehrt und höchst spekulativ eingesetzt wird.

Zum ersten Einwand: "Es ist kein gutes Zeichen, dass Unternehmen ihre eigenen Aktien aufkaufen müssen, um ihren Kurs zu stützen." Natürlich können solche Entscheidungen vielfache Gründe haben. Oft wird es eine reale Furcht vor einer "feindlichen Übernahme" sein, die immer dann groß ist, wenn der Kurs niedrig ist. Aber gesamtwirtschaftlich ist von Interesse, dass Unternehmen, die eigene Aktien rückkaufen, in dieser Phase wenig oder gar nicht investieren, und damit auch keine Impulse geben für einen neuen Wirtschaftsaufschwung.

Zum zweiten Einwand: "Doch der aberwitzige Wertzuwachs der IT- Technologie-Aktien resultiert in erster Linie aus der übertriebenen Liberalisierung, die spekulativen Kapitalbewegungen keinerlei Fesseln anlegt." Das Problem ist, dass in diesem wahnwitzigen System keine Regulierung vorhanden ist, die zu einem vernünftigen Maßhalten führen kann. In der Hausse werden immer größere, immer unrealistischere Gewinnerwartungen erzeugt, die Investitionen finden unter derartigem Zeitdruck statt, dass sie von einer vernünftigen Planung völlig abgekoppelt sind. Natürlich steht es jedem Anleger frei, sein Kapital nach Belieben auch zu vernichten. Aber trotz alldem muss klar sein, dass es darüber auch noch eine volkswirtschaftliche Verantwortung gibt. Denn hinter den Aktienkursen steckt auch das Wohlergehen nicht nur der Unternehmen, dahinter steckt Vollbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit. In den USA hat die damals einsetzende, auf dem Vertrauen der Menschen beruhende "Aktienkultur" dazu geführt, dass viele Menschen die Sicherheit ihrer Altersversorgung in Erlösen aus Aktien und Renten abgesichert haben. Und wenn diese Einkommensanteile teilweise wegfallen - wie dies derzeit geschieht, dann führt dies zu einem weiteren Konjunktureinbruch. Und die Hoffnung auf einen bald bevorstehenden Aufschwung schwindet.

Zum dritten Einwand: Bereits im Vorspann führt Passet aus, dass der börsengeleitete Kapitalismus in einer Systemkrise steckt - "was nicht bedeutet, dass das System am Ende ist." Aber dieses System lässt sich - heute ebenso wie am Schwarzen Freitag - auch nicht einfach "gesundreden". So viel Psychologie andernorts auch im Spiel ist, es nützt zur Zeit nichts, wenn Greenspan gelegentlich von sich gibt "Der Aufschwung hat schon wieder begonnen."

Wichtig ist die Erkenntnis, dass jeder Aufschwung Basisinvestitionen braucht - in Infrastruktur, in Bildung und in Gesundheit. Wenn das ökonomoische System nicht für die Menschen da ist, sondern zu einem reinen Selbstzweck verkommt, dann kann es nicht das leisten, was wir uns mit voller Berechtigung erwarten, nämlich dass es uns Chancen eröffnet und sichert. Wenn das System nicht in der Lage ist, für uns konstant günstige Bedingungen zu schaffen, dann muss es durch politische Entscheidungen so verändert werden, damit es unseren Ansprüchen gerecht werden kann.

Günter Wittek




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