SZ 04 12 02

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Höchstes Lob für die tiefste Provinz

Ein Jahr nach dem Knalleffekt der Pisa-Studie: Warum ein Gymnasium in Altdorf so gut abgeschnitten hat – und welche Probleme auch hier bleiben

Von Christine Burtscheidt

Altdorf , im Dezember – Er kann es mittlerweile nicht mehr hören, dieses
Wort: Pisa. Karlheinz Graß erinnert sich genau an den Novembertag vor einem Jahr, an dem er auf dem Weg zur Schule war. Er saß im Auto und blickte in die Dämmerung, die sich bleiern in den Tag schob. Durch die Windschutzscheibe sprang ihn die Schlagzeile der Bild-Zeitung an: „Sind alle Lehrer so doof?“ Karlheinz Graß weiß noch, wie die Wut in ihm aufstieg. Nicht genug, dass ein Politiker wie Gerhard Schröder die Lehrer als „faule Säcke“ abqualifiziert hatte. Jetzt auch noch die Boulevardpresse. Und eine Woche danach, am 4. Dezember, die Aufregung um jenes Monstrum mit dem Namen Programme for International Student Assessment. PISA eben.

„Ich konnte es nicht glauben“, sagt der bärtige Pädagoge, der im grellen Neonlicht seines Oberstudiendirektorenzimmers sitzt, vor sich zwei Lebkuchen in einer Kristallschale. Deutsche Schüler schlechter als amerikanische, französische, britische – „nicht vorstellbar!“ Dabei hat der 48- jährige Leiter des Leibniz-Gymnasiums in Altdorf in Mittelfranken gar nicht unbedingt Anlass, sich aufzuregen. Haben doch beim internationalen Pisa-Test die 26 beteiligten Leibniz-Schüler glänzend abgeschnitten. Ihre Leistungen im Lesen und in den naturwissenschaftlichen Disziplinen lagen mit jeweils mehr als 600 Punkten weit über dem Durchschnitt der Teilnehmer aus den
Spitzen- Ländern Finnland, Japan und Korea. Und zudem über dem Niveau der 21
Pisa- Gymnasien aus Bayern, die im Vergleich der deutschen Bundesländer ohnedies die besten waren.

Natürlich hat Karlheinz Graß dieses Resultat „mit Wohlgefallen“ aufgenommen, als es ihm am 7. Oktober auf fünf DIN-A-4-Seiten zugestellt wurde. „Fachlich ist unsere Arbeit gut“, sagt er. Doch bleibt genug, was ihn gestört oder geradezu erschüttert hat. Zum Beispiel, dass an deutschen Schulen, wie die Pisa-Studie ergab, Kinder aus der Unterschicht kaum zu höherer Schulbildung gelangen. Oder dass am Leibniz-Gymnasium in Altdorf das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern unterdurchschnittlich sei. Auch gaben seine 26 Pisa-Probanden an, von ihren Eltern zu wenig unterstützt zu werden. „Und ich dachte, dass wir durchaus eine Förderung leisten.“

Das Gymnasium liegt am Rand von Altdorf, einer Kreisstadt mit 15 000 Einwohnern, zwei Stadttürmen, vielen alten Fachwerkhäusern und wenig Industrie. Die Schule ist ein Backsteinbau, flach und öde. In der Eingangshalle steht auf grauem Boden ein riesiges Schaukelpferd. „Halte dich wohl, dass einst die späteren Enkel dich preisen. Odyssee III.“, steht an der Wand geschrieben, daneben ein Bild: altgriechische Wagenlenker peitschen auf ihre Pferde ein.

„Es ist hier eine Idylle. Wir profitieren vom ländlich-provinziellen Raum“, sagt Helmut Martin, der korpulente Konrektor. In seinem Zimmer steht ein Schachbrett spielbereit. Viele Eltern ziehen die Schule einem Gymnasium in Nürnberg vor, wie Martin meint, es gibt hier keine Gewalttaten, kein Schwänzen, keine Drogen. Im Klassenraum der 5b indes flattern bunte Karten an einer Schnur. „Ich habe Angst vor Schulaufgaben“, ist darauf zu lesen. „Ich habe Angst, dass mich ältere Schüler schlagen.“ Und: „Ich habe Angst vor schlechten Noten.“

Dabei ist sture Paukerei verpönt bei etlichen der Leibniz-Lehrer. Erich Walke zum Beispiel nimmt im Erdkunde-Unterricht der 5b gerade Deutschlands Grenzen durch. „Was habt ihr nicht verstanden?“, fragt er immer wieder. Und gibt als Hausaufgabe die Lektüre zweier Seiten aus dem Erdkundebuch auf.. Er rät seinen 27 Schülern, den Text dreimal zu lesen. „Und lernt nichts auswendig, was ihr nicht verstanden habt! Fragt lieber nach oder schaut ins Lexikon!“

Später, in einer Pause, sitzt Erich Walke mit seinem Kollegen Bernd Mittenzwei im Lehrerzimmer, lässig in Sakko und Jeans. Der weiß gestrichene Raum für die 103 Lehrer ist mit neuem Fichtenmobiliar bestückt. Mittenzwei und Walke zählen zu einer Gruppe engagierter Lehrer, die die so genannte innere Schulentwicklung vorantreiben. Sie sind offen für Fortbildung, gemeinsame Gespräche über ihren Unterricht und engere Zusammenarbeit mit den Eltern. Natürlich freuen auch sie sich über das gute Pisa-Ergebnis. „Da kann der Weg, den wir seit Jahren gehen, nicht ganz falsch sein“, sagt Mittenzwei. Doch so gut die Leistungen auch sind, sie halten sie für wenig repräsentativ. In Altdorf wurden 26 Schüler von 1430 ausgewählt. „Vielleicht hat es gerade die getroffen, die viel lesen.“

Sprachlose Eltern

Wichtiger als Punkte ist für die beiden Pädagogen die Diskussion, die durch die Pisa-Studie entfacht wurde. Seit langem beobachten sie an ihrem Gymnasium Defizite. Jugendliche, denen die Syntax verloren gegangen ist. Die keinen Punkt mehr setzen können oder nur in abgekürzten Sätzen sprechen. „Funktionale Analphabeten, die komplexe Zusammenhänge nicht verstehen können, die haben auch wir“, sagt Mittenzwei. Und entwirft ein pessimistisches Bild: Spricht man Eltern auf die Sprachschwierigkeiten an, sind diese erst betroffen – und beschuldigen dann den Lehrer. Doch fragt man Eltern, was sie selbst lesen, erhält man immer häufiger zur Antwort: „Gar nichts“. Oder: „Comics“.

Die Schule ist somit der Spiegel einer Gesellschaft, in der das Buch an Bedeutung verliert. Andere Medien sind attraktiver. Fast jeder Schüler hat heute seinen eigenen Fernseher und Computer im Zimmer stehen. Die wenigen Eltern, die dagegen vorgehen, führen einen aussichtslosen Kampf, meinen die beiden Lehrer. „Notfalls weichen die Kinder eben auf Freunde aus.“ Häufig aber seien die Eltern gar nicht mehr zuhause, weil beide Geld verdienen müssten. Viele tauchten erst in der Schule auf, wenn die Noten nicht mehr passen. „Dann ist es aber oft schon zu spät“, sagt Bernd Mittenzwei.

„Es liegt nicht nur an den Eltern. Dagegen wehre ich mich“, sagt Ursula Beer-Finck. Die Vorsitzende des Elternbeirats ist eine forsche junge Frau in pinkfarbenem Pulli, mit lockigem Haar. Ihrer Meinung nach muss man das ganze System hinterfragen. Der Übertritt der Schüler aufs Gymnasium nach der vierten Klasse Grundschule komme viel zu früh. Auch gehe es immer nur um Noten. „Man braucht eine völlig neue Struktur“, sagt sie. „Das muss die Politik machen.“

Von großen Reformen hält der Schulleiter Graß freilich wenig. Japanische Paukschulen, „so was will ich nicht“, sagt er. Und finnische Gesamtschulen? „Die deutsche Gesamtschule hat schlechter abgeschnitten als die Realschule, das kann es wohl auch nicht sein.“ Eine entscheidende Frage ist für den Direktor die soziale Auslese der Schüler. Ans Leibniz-Gymnasium in Altdorf haben es nur 16 ausländische Kinder geschafft, die meisten deutschen Schüler stammen aus der Mittel- und Oberschicht. Unerlässlich erscheint ihm eine Ganztagsbetreuung. Doch dazu braucht man mehr Geld.

Die Schüler haben andere Sorgen. „Ich würde so gerne einmal wieder sechs Punkte in Mathe schreiben“, sagt ein Junge im Schüler-Café, wo vor einer blauen Bar zwei alte Sofas stehen. „Sind wir wirklich die Elite in Bayern?“, fragt ein Mädchen. Sabine Zenglein und Magdalena Wiener, zwei coole Girls mit gefärbtem Haar, haben vor zwei Jahren am Pisa-Test teilgenommen und können die Aufregung nicht verstehen. Es gab Fragen zur Familie, zu Fernseh-Serien, zum Prozentrechnen. Auch mussten sie auf Zeit lesen. „Das war ziemlich banal“, sagt Sabine. Als sie dann noch sagen sollte, wie oft sie Pornofilme anschaue, habe sie die Sache einfach nicht mehr ernst nehmen können. „Da war nicht viel dran“, sagt auch Magdalena. „Ich habe die Kreuze irgendwo gemacht.“











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