Frankfurter Rundschau 04 12 02

Der private Generationenpakt

Ein moderner Staat muss das Sozialstaatsprinzip der gerechten Verteilung ernst nehmen und endlich umsetzen - heißt: Gestaltungsspielräume, die sich die Menschen selbst geschaffen haben, nutzen und gegebenenfalls sinnvoll unterstützen

Von Katharina Sperber

Die Decke scheint zu kurz. Die Alten, so jammern die 25- bis 35-Jährigen, hielten nicht nur alle noch verfügbaren Arbeitsplätze besetzt, sie hätten sich zudem das soziale Federbett über den Kopf gezogen und machten keine Anstalten, auch nur einen Zipfel herzugeben. Pessimisten rufen bereits den Krieg der Generationen aus, wenn mittelalte Eltern, auch Sandwichgeneration genannt, Großväter und -mütter ihren Lebensstandard nicht endlich zu Gunsten der Jungen herunterschraubten.

Schaut man sich jedoch den Frontverlauf in dieser Auseinandersetzung genau an, offenbart sich ein anderes Bild. Jenseits aller staatlichen Umverteilung nämlich funktioniert der private Transfer von Alt zu Jung und umgekehrt ausgesprochen gut. Er ist oft effizienter und bedarfsgerechter als staatliche Segnungen: Großeltern finanzieren heute häufig das Studium ihrer Enkel, bezahlen den Urlaub von jungen Familien oder tilgen die Schulden für das Reihenhäuschen ihrer Lieben. Und die Sandwicher, meist noch voll erwerbstätig, helfen nicht nur ihren erwachsenen Kindern, beispielsweise arbeitslose Zeiten zu überbrücken, sie erübrigen meist auch klaglos Zeit und
(Pflege-) Dienstleistungen für die Alten.

Die These von der mangelnden Bindungskraft zwischen den Generationen stimmt also nicht, obwohl sich heute Familie nicht mehr nur als Vater, Mutter,
Kind(er) darstellt, sondern in buntem Patchwork ihr Leben erstaunlich glücklich organisiert. Gute medizinische Versorgung, gesunde Ernährung, leichtere Lebensumstände lassen die Lebenserwartung steigen, so dass heute - ganz anders als früher - drei bis vier Generationen über viele Jahre nebeneinander, häufig auch miteinander leben. Genau diese Entwicklung bietet die Grundlage des privaten Transfers. Und es sind nicht nur die reichen Rentner, die sich altruistisch für ihre Nachkommen engagieren. Ein Drittel der Alten unterstützt Kinder und Enkel; selbst finanzschwächste Haushalte wenden mehr als zehn Prozent ihres verfügbaren Einkommens dafür auf. Mittelstandshaushalte geben am wenigsten.

Dieser private Transfer, jenseits aller Erbschaften, spielt in der Debatte kaum eine Rolle. Politiker streiten sich stattdessen aus sehr durchsichtigen Gründen darüber, ob nun die Rentenbeiträge erhöht oder die Renten gekürzt gehören, um die Kassen zu retten. Währenddessen haben in diversen Umfragen zwei Drittel der Alten bereits signalisiert, sie würden in diesen Zeiten steigender Arbeitslosigkeit und düsterer Wirtschaftsaussichten sehr wohl auf ein paar Prozent ihrer Rente verzichten, wenn damit die Beiträge nicht weiter stiegen. Das übrige Drittel besteht auf seinem Anspruch mit der Begründung, die Altersversorgung falle nicht wie Manna vom Himmel, sondern sei unter Verzicht hart erarbeitet. Womit es Recht hat, aber vergisst, dass auch die Jungen heute ihr Päckchen zu tragen haben, und das ist nicht leicht. Gegenseitige Schuldzuweisungen sind wohlfeil und in der großen Mehrheit der Gesellschaft auch gar nicht üblich.

Warum hallt dann aber dieses Kriegsgeschrei durchs Land? Weil Sozialpolitik heute die realen Verhältnisse ignoriert. Mit Einführung der Rentenversicherung 1957 hat der Staat das Altersrisiko sozialisiert, Familienrisiken aber privatisiert. Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, irrte mit seiner Voraussage: "Kinder kriegen die Leute immer."

Kinder kriegen die Leute schon noch, aber nicht mehr genug, um das Sozialversicherungssystem, wie es heute besteht, erhalten zu können. Und es liegt nicht nur daran, dass Renten- und Krankenversicherung ausschließlich über Erwerbsarbeit finanziert werden. Die Alterspyramide steht auf dem Kopf, und es wird nicht genug getan, um das zu ändern. Im Gegenteil. Wenn Kinder heute schon Mittelstandsfamilien in Armut bringen können, dann muss man sich nicht wundern, dass junge Paare auf Nachkommen dankend verzichten, da der Staat ihnen zugleich auch verspricht, für Rente und Pflege im Alter irgendwie zu sorgen.

Das - nur mit Blick auf die nächste Wahl - gegebene Versprechen umfassender staatlicher Versorgung erweist sich als hohl. Weil das Geld schon bei den Sandwichern für nicht viel mehr als ein trauriges Altersheim reichen wird, in dem Pflege sich im besten Fall auf Satt- und Saubersein reduzieren wird. Nicht auszudenken, wie es den Jungen dereinst gehen wird.

Der Sozialstaat, so wie er heute verfasst ist, entzieht privatem Transfer und privater Vorsorge viel Geld, das zu allem Unglück auch noch ungerecht verteilt wird. Die Menschen sehen sich in ein Versicherungskorsett gezwungen, das ihnen aber keinen Halt mehr bietet. Was also tun? Das Sozialstaatsprinzip der gerechten Verteilung ernst nehmen und endlich umsetzen. Die Zeiten sind vorbei, da Vater Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern vorschreiben konnte, was gut für sie ist. Ein moderner Staat muss Gestaltungsspielräume, die sich die Menschen selbst geschaffen haben, nutzen, gegebenenfalls sinnvoll unterstützen mit Steuergeldern - siehe Ganztagsschulen und BAföG - und Hilfsbedürftigen mit einer Grundsicherung unter die Arme greifen.



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