(c) DIE ZEIT 49/2002
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Penne(n) trotz Pisa
Wir brauchen die Gesamtschule, aber ohne die alte Ideologie
Von Martin Spiewak
So viel Bildung war selten. Die Pisa-Studie hat den Langweiler Schule in einen Aufreger verwandelt und Bildung wieder zum Hauptfach der Politik gemacht. In keinem Land der Welt fand der internationale Schülervergleich ein so lautes Echo wie in Deutschland. Das Zeugnis für unsere Schulen war verheerend. Fragt man ein Jahr später aber nach den Veränderungen, fällt die Bilanz trübe aus. Die wichtigste Frage bleibt ohne Antwort: Wie werden wir den zweifelhaften Ehrentitel los, Weltmeister in der Disziplin „Ungerechtigkeit“ zu sein? Deutschland ähnelt einem Schüler, der knapp am Sitzenbleiben vorbeigeschrammt ist und nun meint, mit etwas Nachhilfe hätte er das Abitur bereits in der Tasche.
Das schlechte Abschneiden der 15-Jährigen beim Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften schockierte alle in diesem Land. Eigene Verantwortung für die Misere übernahmen nur wenige. Wie viele Städte haben ihre Schulleiter zusammengetrommelt und beratschlagt, was sich in ihren Schulen schnell ändern muss? Welcher Lehrerverband hat gefordert, dass deutsche Pädagogen wie in anderen Ländern den ganzen Tag in der Schule verweilen? Wo waren die Eingeständnisse sozialdemokratischer Schulpolitiker, dass man Leistung vernachlässigt habe? Und welcher Konservative fragte sich öffentlich, ob das dreigliedrige Schulsystem tatsächlich der Schulweisheit letzter Schluss sei? Die Schulen diskutierten die Pisa-Ergebnisse ausgiebig. Doch oft nur auf dem Flur statt in der Lehrerkonferenz.
Durchlässig nur nach unten
Richtig lernunwillig erweist sich unser Land angesichts des größten Versagens seines Schulsystems, für Chancengleichheit zu sorgen. Zur
Erinnerung: Für den Professorensohn ist es dreimal so leicht, auf das Gymnasium zu kommen, wie für ein Arbeiterkind mit gleichen Fähigkeiten.
Subtile Mechanismen verstärken das Handikap der Herkunft, anstatt es wie in anderen Ländern zu mildern. Schon in Kindergarten und Grundschule erhalten sozial benachteiligte Kinder zu wenig Förderung. Selbst wenn sie das Gymnasium schaffen könnten, trauen ihnen Lehrer wie Eltern oft nur die Hauptschule zu. Hier treffen sie auf Mitschüler aus ebenso schwierigen familiären Verhältnissen – und auf Lehrer, die ihre geringen Leistungserwartungen eben auf solche Kinder einstellen.
Die einmal eingeschlagene Schullaufbahn ist kaum korrigierbar. Deutsche Schulen sind vor allem in eine Richtung durchlässig: nach unten. Auf 100 Schüler, die in eine niedrigere Schulform absteigen – das zeigte eine Untersuchung in Nordrhein-Westfalen –, kommen nur fünf Kinder, die in einen anspruchsvolleren Bildungsgang wechseln.
Wer die geforderte Leistung nicht bringt, wird nicht versetzt, heruntergestuft, abgeschoben. Die Beweispflicht, ob ein Kind auf ein Gymnasium „gehört“, liegt bei ihm. Das findet in Deutschland jeder normal. Ebenso, dass die Förderung weitgehend in Familienhand liegt. Die Versäumnisse der Schulen bescheren der Nachhilfeindustrie jährlich rund eine Milliarde Euro an Einnahmen. Sollte es einreißen, dass Eltern – wie zurzeit in Hamburg – Ersatzlehrer bezahlen, um Unterrichtsausfall zu vermeiden, wird die Grundbildung weiter privatisiert. In anderen Ländern liegt die Verantwortung stärker bei den Lehrern; sie sind es, die Kinder befähigen, im Unterricht mitzukommen.
Das scheint auch mit den Schulformen zusammenzuhängen. Das selektive Schulsystem entlässt die Lehrer aus der Pflicht, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern. In der deutschen Debatte nach Pisa wagte niemand, die Systemfrage zu stellen. Der Dreißigjährige Krieg um das Für und Wider der Gesamtschule hat niemandem genutzt. Angesichts der internationalen Erfahrungen ist es jedoch fraglich, ob die Einteilung in Gymnasium, Real- und Hauptschule ewig unantastbar bleibt. Denn je früher die Auslese beginnt, je hierarchischer das Schulsystem aufgebaut ist, desto stärker schlägt sich die soziale Herkunft eines Schülers auf seine Leistungen nieder. In beiden Disziplinen ist Deutschland Spitze: Nirgendwo gliedert sich das Schulwesen derart streng, fallen die Entscheidungen über Lebenschancen in so jungen Jahren – und bleiben so viele Schüler sitzen.
Diese Bestenauslese soll die Leistungsfähigkeit aller stärken? Pisa beweist das Gegenteil. Am besten schnitten jene Nationen ab, in denen die Schüler bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen. Zugleich können diese Länder eine höhere Abiturquote vorweisen und weniger Bildungsverlierer. Beides zeigt: Chancengleichheit ist weder pädagogische Sekundärtugend noch linker Luxus.
Sprechen wir es aus – langfristig brauchen wir Gesamtschulen. Nur nicht in ihrer deutschen Version, in der Kinder nicht allein zu guten Schülern, sondern zu „besseren Menschen“ geformt werden sollten. Mit der frühen Auslese wurde dort auch die Leistung abgeschafft. In den Großstädten wurde „die Schule für alle Begabungen“ oft zur Hauptschule, in der die Kinder zwar gute Noten bekommen, aber weniger lernen als anderswo. Das hat eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung belegt.
Die Reform kann sofort beginnen
Schüler mit unterschiedlichen Begabungen lassen sich nicht gemeinsam unterrichten, sagen deutsche Lehrer. Ihre Kollegen in Skandinavien, Kanada oder Japan zeigen, dass es doch geht. Sie haben es in ihrer Ausbildung gelernt, verfügen über entsprechende Unterrichtsmaterialien und häufig über zusätzliches Personal. Sie fördern die Schwachen und fordern die Guten. Und sie stellen sich regelmäßigen Leistungskontrollen.
Man muss nicht das Bildungsgebäude einreißen, um in deutschen Schulen etwas zu verbessern. Schulen brauchen weniger Vorschriften und viel Freiraum, dennoch muss der Staat kontrollieren, was sie leisten. Ein guter Unterricht kaut kein Wissen vor, sondern lässt Schüler eigene Erfahrungen machen.. Das Lernen muss im Kindergarten beginnen. Eine schulferne Lehrerausbildung produziert keine guten Pädagogen. Dass all dies heute auch in Deutschland Konsens ist, kann ebenfalls als Erfolg von Pisa gelten. Andere Länder wie Finnland oder Kanada kennen diese Lektionen freilich seit Jahren und haben daraus längst Konsequenzen gezogen.
Damit hapert es in Deutschland. Es gibt die Aussicht auf mehr Ganztagsschulen. Aber keiner weiß, wer sie bezahlen soll. Das versprochene Geld aus Berlin wird nicht reichen. Statt einer Hartz-Kommission für die Bildung gab es Absichtserklärungen der Kultusministerkonferenz (KMK).
Immerhin beschloss die KMK, alle deutschen Unterrichtsanstalten regelmäßigen Leistungstests zu unterziehen. Das ist gut. Bildungsbehörden müssen erfahren, wann Schulen Talente verschwenden, wenn Lehrer und Schulleiter Hilfe brauchen – oder Sanktionen folgen müssen. Doch bis Pädagogen nachgeschult sind oder Schulvorsteher in Pension gehen, werden Jahre vergehen und die deutschen Schulen weiter zurückfallen.
Einige Projekte zum besseren Lesen hier, diverse Programme für einen anderen Unterricht dort werden daran nichts ändern. Es ist zu wenig, wenn nur einige Dutzend Schulen in Zukunft aus dem Klammergriff der Bildungsbürokraten befreit werden. Es reicht nicht, dass einige wenige Universitäten ihre Lehrerbildung vom Kopf auf die Füße stellen.
Jeder Lehrer, jeder Schulleiter, jede Schule kann morgen mit der Reform beginnen. Wer darauf wartet, dass sich alles ändert, will nur, dass nichts geschieht. Langfristig jedoch wird sich der deutsche (Schul-)Weg der immer früheren und härteren Auslese als Anachronismus erweisen. Deutschland braucht alle Schüler und eine Schule für alle.
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