DER STANDARD
Donnerstag, 5. Dezember 2002, Seite 39

Entdeckungen bei einem Blick aus dem Elfenbeinturm
Wenn einem der jüngste Stand der Koalitionsdebatten plötzlich ziemlich wurscht wird: Aufzeichnungen einer Bewohnerin der "Hallen der Wissenschaft" von einer Begegnung mit der Wirklichkeit, unweit von ÖGB und Ballhausplatz.

Elisabeth Nemeth*

Verzeihen Sie, wenn ich die Diskussion um Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot unterbreche, aber vielleicht findet auch eine Begebenheit am Rand der öffentlichen Wahrnehmung Ihr Interesse. Die Rede ist von einem der größten Renovierungsprojekte des Bundes in Wien - der Anfang Oktober von Rektorat und Bundesimmobiliengesellschaft in Auftrag gegeben Instandsetzung der alten Fassade des Neuen Institutsgebäudes (NIG) in der Universitätsstraße. (STANDARD-Bericht vom 4. 11.) Seither erinnern mich Hämmer und Pressluftbohrer Tag für Tag daran, dass auch die Elfenbeintürme der Wissenschaft aus Beton sind. Vor dem Fenster meines Büros im 3. Stock balancieren Arbeiter voll beladene Scheibtruhen und rufen mir so ins Gedächtnis, dass andere Leute ihr Geld unter sehr viel härteren Bedingungen verdienen als Universitätsprofessor(inn)en.
Letzten Freitag hatte ich freilich noch eine ganz andere Lektion über die Wirklichkeit "da draußen" zu lernen. Am frühen Nachmittag kam es auf der Straße vor meinem Fenster zu einer lautstarken Auseinandersetzung. Als ich zum Eingang Liebiggasse komme, stehen mehrere Polizeiwägen da, Polizisten versuchen wütend gestikulierende Arbeiter zu beruhigen. Ein Unfall? - Nein. Die Ursache der Aufregung ist eine andere: Keiner der Arbeiter hat für Oktober und November bisher auch nur einen einzigen Euro Lohn gesehen. Alle sind Woche für Woche vertröstet worden - zuletzt auf Ende November.
Umsonst. Auch am Freitag, 29. 11. 2002, erklärt ihr Chef, das Geld sei nicht zur Verfügung. Die Polizei wurde gerufen, als zwei Arbeiter, die in den letzten Wochen ihre Wohnung verloren haben und ein anderer, dem für Montag die Delogierung droht, dem Firmeninhaber eins über den Schädel hauen wollten.

"Gib 50 Euro her!"
Auch jetzt noch drängen sich Kollegen dazwischen, wenn einer die Nerven verliert und zuschlagen will. Die Polizisten befragen, versuchen zu beruhigen, halten wütend schreiende Männer zurück. Einmal packt einer den Firmenchef (ein untersetzter Mensch mit offenem Hemd und Goldketterl auf der haarigen Brust) am Kragen: Gib 50 Euro her, und zwar sofort! Nach kurzem Zögern rückt der Chef den 50er heraus. Der Arbeiter dreht sich um und drückt den Schein einem anderen in die Hand: Du geh jetzt in die Apotheke.
Später erfahre ich, dass sein Kollege eine vier Monate alte Tochter hat, die Diabetikerin ist. Ich erfahre auch, dass die Truppe bei einer Subfirma der Strabag angestellt ist. Die Subfirma hat ihren Namen seit September vier Mal geändert: Haselbauer, Angelovic, Köstlbauer. Jetzt heißt sie Ledermüller. Bis heute inseriert sie in der Zeitung, immer wieder unter anderem Namen: damit sie neue Leute findet. Der Firmensitz befindet sich in einem Lokal, das dem Chef gehört, irgendwo in einem Außenbezirk. - "In ,Wien heute' ist eh schon ein Film über die Firma gelaufen. Da ist es um die Baustelle Hohenstaufengasse, bei der ehemaligen CA gegangen. Haben S' den Film nicht gesehen?" - Nein, hab ich nicht. Ich hab bisher überhaupt noch nicht viel gesehen von dieser Welt, die hier vor den Toren der Universität beginnt. Mitten in der Innenstadt Wiens. Nicht weit vom Ministerium für Wirtschaft und Arbeit. Nicht weit vom Büro des ÖGB. Gewerkschaft? - Ach wissen Sie, wie soll das gehen, wenn die Firmen ständig in Konkurs gehen und ihren Namen ändern . . . Arbeiterkammer? - Ja schon, aber das dauert doch Monate. Ich brauch das Geld doch jetzt. Ein Handy läutet: "Ja, ich hol' die Kleine vom Kindergarten ab, hab' hier nicht gleich weg können . . . Ich weiß nicht, wie ich meiner Frau sagen soll, dass ich das Geld auch heute nicht hab." Leider bin ich keine Schriftstellerin. Ich würde gern treffende, angemessene Worte finden für die Empörung und Verzweiflung der Menschen, die hier hemmungslos bestohlen werden, aber auch für die Freundschaftlichkeit unter ihnen und die Bemühung um Ruhe und Vernunft.
Ich frage mich, wann zuletzt ich in der universitären Welt, die auf der anderen Seite dieser Tore liegt, so viel spontane Loyalität und reaktionsschnelle Klugheit erlebt habe wie hier.
Fragen an die Politik
Diese Frage vergesse ich lieber so schnell wie möglich. Andere vergesse ich nicht und werde ihnen nachgehen. Wie um alles in der Welt ist es möglich, dass eines der größten Renovierungsprojekte, die der Bund in den letzten Jahren ausgeschrieben hat, von einer Firma durchgeführt wird, die ihre Arbeiter nicht bezahlt? Oder so spät bezahlt, dass sie in der Zwischenzeit delogiert werden? Wieso vergibt die Republik ihre Bauvorhaben nicht an seriöse Baumeister? Und wann endlich machen Sozialdemokraten, Grüne und Gewerkschaften die Beschäftigungsverhältnisse, die noch immer "untypisch" genannt werden (obwohl sie von Jahr zu Jahr typischer werden), zu ihrer ureigensten Sache? Und die Rechte dieser Menschen zur Priorität ihrer politischen Anstrengungen?

PS.: Die Bauarbeiter, die seit Oktober an der Fassade gearbeitet haben, haben den Zeitplan mehr als erfüllt: Sie sind zwei Wochen früher dran als ursprünglich vorgesehen. Es stünde der Leitung der Universität gut an, alles in ihrer Macht stehende dafür zu tun, dass sie umgehend zu ihrem Lohn kommen.

*Assistenzprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Wien


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