Frankfurter Rundschau 05 12 02

Mit Standards mauern oder steuern

Von Ludwig Eckinger

Pisa hat in Deutschland einen Dammbruch bewirkt. Mit einer über jeden Zweifel erhabenen Sicherheit gehen die Kultusminister inzwischen mit "nationalen Bildungsstandards" hausieren, die erstaunen muss, galten doch solche "Einheitsbestrebungen" vor Pisa eher als Teufelswerk. Den Positionswechsel in der KMK begrüße ich, aber noch notwendiger scheint mir, das Vorhaben nationaler Bildungsstandards zu hinterfragen, zumal aus der Bundespolitik gleich lautende Vorhaben bekannt gegeben wurden. Wenn zwei das Gleiche verkünden, muss es nicht das Gleiche sein. Und wenn die Eifersüchteleien zwischen Bund und Ländern nicht ausgeräumt werden, wird sich Schule womöglich im Gestrüpp doppelter Bildungsstandards endgültig verfangen. Nein, Deutschland ist keinesfalls schon über den Berg angesichts der Reformbotschaften von Bund und Ländern.

Mit der Entwicklung nationaler Bildungsstandards muss ein Paradigmenwechsel verbunden sein. Ein Blick in die erfolgreichen Pisa-Länder zeigt, dass dort beginnend im Elementar- und Primarbereich ein diagnosegestütztes System individuellen Förderns und Forderns für alle Kinder greift. Entsprechend sieht die Lehrerversorgung und die Ausstattung der Schulen mit Unterrichtsstunden und sozialpädagogischer Unterstützung aus. Das Bildungssystem in Deutschland setzt bisher auf das begabungsgerechte Sortieren der Schülerinnen und Schüler auf einzelne Schularten. Die Pisa-Studie wie auch der OECD-Vergleich "Bildung auf einen Blick" zeigen, dass Kinder aus Familien mit höherem sozialen Status sehr wahrscheinlich einen höheren Bildungsabschluss erwerben und Kinder aus sozial komplizierten Verhältnissen einen geringeren Bildungsstatus.

Mit nationalen Bildungsstandards ließe sich das bisherige System zementieren oder umsteuern. Im Abfragen und Testen war die deutsche Schule noch nie schwach, aber in der Diagnose des Erwerbs von Wissen und Kompetenzen durch die Schülerinnen und Schüler brauchen Lehrerinnen und Lehrer eine deutlich stärkere Unterstützung. Es lässt mich deshalb aufhorchen, wenn die KMK
erklärt: "Es sollen die bestehenden Vereinbarungen über den Mittleren Abschluss und das Abitur ebenso weiter entwickelt werden wie Kompetenzen und grundlegende Wissensbestände, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eines Bildungsganges erlernt werden müssen." Bildungsstandards dürfen gerade nicht an Bildungsgänge gebunden werden, sondern sind altersgerecht nach Schulstufen zu entwickeln. Die mangelnde Durchlässigkeit der Schularten von unten nach oben würde andernfalls durch Bildungsstandards untermauert werden.

Ebenso widerspreche ich dem Ansatz: Wer Bildungsstandard sagt, muss zusätzliche Vergleichs- oder Orientierungsarbeiten praktizieren. Auch das ist zu kurz gegriffen. Mit dem Messen von Schülerleistungen wird keine Leistung a priori besser. Steht nicht schon der bisherige Unterricht viel zu sehr im Dienst der Prüfung, erfährt er nicht schon jetzt Einengungen auf das prüfbare, abzählbare Wissen? Wir müssen dahin kommen, dass im Unterricht mehr Zeit zum Denken ist (und auch der Fehler als Quelle der Erkenntnis zählt). Tests und Vergleichsarbeiten machen nur Sinn, wenn sie verbunden werden mit förderdiagnostischen Möglichkeiten, demnach nicht auf reine Wissensfragen beschränkt sind. Es bedarf didaktisch aufbereiteter Kriterien für dergleichen Arbeiten. Die unmittelbare Rückmeldung an die Lernenden ist nicht mit einer Note abgegolten. Im Vordergrund muss die individuelle Förderung der einzelnen Schüler stehen, und dem Lehrenden muss dies auch möglich sein. Die Erarbeitung von Bildungsstandards muss notwendige Rahmenbedingungen zur Folge haben.

Hier denke ich nicht nur an Klassengrößen und notwendige Lehrerstunden; hier denke ich auch an die Qualifizierung der Lehrerbildung und insbesondere an den erhöhten Anspruch der Lehrerfortbildung. Die Stärkung der Diagnosefähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer wurde vor einem Jahr bei Bekanntwerden der Pisa-Ergebnisse spontan auch von der KMK aufs Schild gehoben, seitdem aber ist nicht viel passiert. Deutschland kann nicht warten



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