Die Presse 07 12 02

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Die Not der Lehrer

Der Lehrer von heute. Er soll erziehen: zu fixer Leistungsbereitschaft und gleichzeitig zu schöner Selbstverwirklichung und drittens auch noch zu so- zialer Solidarität. Das ist viel verlangt - zu viel. Lehrer heute: ein Beruf, ein sozialer Charakter in der Krise. Und wo es Krisen gibt, dort gibt es Krisenprofiteure.

Von Peter Strasser

Sozialcharakter: Ich übernehme den Begriff so, wie ihn der amerikanische Sozialphilosoph Alasdair MacIntyre in seinem Buch "After Virtue" verwendet (das Buch erschien erstmals 1981; es trägt den deutschen Titel "Der Verlust der Tugend"). Gehen wir davon aus, daß in einer bestimmten Gesellschaft bestimmte Tugenden als zentral angesehen werden. Dann gibt es Menschen, welche auf Grund ihrer sozialen Rolle einige dieser Tugenden besonders deutlich und mit Nachdruck verkörpern. Denken wir an die Rolle des Ritters in der mittelalterlichen Gesellschaft oder an die Rolle des Bildungsbürgers im Zeitalter der Aufklärung oder an die Rolle des Unternehmers im 19. Jahrhundert. Individuen, die solche Rollen verkörperten, selbstverständlich mehr oder weniger gut, repräsentierten dabei jeweils einen sozialen Charakter. Denn mit den Fähigkeiten, die sie an den Tag legten, sei es als adelige Diener ihrer Fürsten, sei es als aufgeklärte Humanisten im Staatsdienst, sei es als profitorientierte Mehrer des materiellen Wohlstands, bestätigten sie stets auch die Geltung sozialer Tugenden, die für das Selbstverständnis der Gesellschaft insgesamt wichtig schienen.

MacIntyres These ist nun nicht einfach die, daß es auch in den modernen Gesellschaften westlichen Typs soziale Charaktere gebe. Sie ist wesentlich interessanter und lautet ungefähr folgendermaßen: Es gibt in unserer Gesellschaft soziale Charaktere, aber sie alle sind auf eine eigentümliche Weise defekt. Denn es sind Charaktere, deren Tugendorientiertheit sich paradoxerweise daraus ergibt, daß unsere Gesellschaft beyond virtue ist.. Sie ist gerade keine Gesellschaft mehr, in welcher das Konzept der Tugend eine soziale Schlüsselstellung einnehmen könnte. Die Tugend des modernen Sozialcharakters ist also eine, die man zwischen Anführungszeichen setzen sollte.

Was ich zeigen möchte, schließt an MacIntyres These an. Ich möchte zeigen, daß die Figur des Lehrers ein krisenhafter Sozialcharakter ist. Die Lehrer von heute sind aufgefordert, zentrale Tugenden unserer Gesellschaft zu verkörpern und zu befördern, wobei sie aber darauf achten müssen, sich nicht jene Art von Autorität anzumaßen, die mit der legitimen Verkörperung von Tugenden untrennbar verbunden ist. Das ist natürlich kein widerspruchsfrei durchführbares Unternehmen und hat deshalb irritierende psychische und moralische Auswirkungen.

Was heisst Verlust der Tugend? Denken wir an traditionelle Gesellschaften, so haben wir, idealtypisch gesprochen, das Bild eines Gemeinwesens vor uns, in dem der einzelne mit der sozialen Rolle, die ihm kraft Abstammung, Vermögen und Verdienst zusteht, aufs engste verbunden ist. Idealtypisch gesprochen ist es möglich, in einer niederen sozialen Rolle, als Handwerker, Soldat, Bauer, sogar als Sklave, tugendhaft zu sein. Das bedeutet, wie wir bereits von Plato und Aristoteles erfahren, die eigene Rolle als etwas auszufüllen, was einem von Natur aus angemessen ist.

Die Butlerfamilie, bestehend aus Vater und Sohn, die in Kazuo Ishiguros Roman "The Remains of the Day" gezeigt wird - im Film verkörpert von Anthony Hopkins und Peter Vaughan -, spiegelt dieses Konzept der Tugend eindringlich wider. Als der Vater im Hause seines Dienstherrn stirbt, bedient sein Sohn Stevens auf einer Abendgesellschaft die Gäste weiter, als ob nichts wäre. Das ist der einzige Weg, der ihm bleibt, will er nicht aus der Rolle fallen, die der Vater auf ihn übertragen hat - die Rolle des perfekten Butlers, die das ganze Menschsein dessen, der sie ausübt, erfaßt und gestaltet.

Ishiguros Butlerleben ist bereits aus der Perspektive des modernen Individualismus gezeichnet. Es ist ein Leben, das gerade dadurch seiner besten Möglichkeiten beraubt wird, daß die Persönlichkeit sich in das Korsett einer sozialen Rolle zwängen muß. Stevens gestattet sich keine Gefühle, die mit den Tugenden eines Butlers nicht vereinbar wären, und so versäumt er die große Liebe seines Lebens (im Film hinreißend dargestellt von Emma Thompson). Modernität, so können wir sagen, besteht darin, daß sich das Individuum von den Rollen, die es in der Gesellschaft spielt und zu spielen hat, mit zunehmender Selbstverwirklichung zunehmend ablöst.

Dabei ist es wichtig zu sehen, auf welche Weise der europäische Humanismus zwischen dem traditionellen und dem modernen Bild der Persönlichkeit ein unerläßliches Mittelglied bildet. Mit dem Humanismus wird das traditionelle Tugendkonzept nicht einfach abgelegt, sondern in eine dynamische Perspektive eingebaut. Es entsteht die Vorstellung, daß ein gelungenes Leben jene Tugenden verkörpert, die ihm von Natur und Herkunft aus angemessen sind, jedoch der Prozeß der Verkörperung individuell ist: eine Bildungsgeschichte. Der Mensch strebt nicht mehr danach, in der bestmöglichen Verkörperung einer sozialen Rolle aufzugehen. Er strebt nach Individualität, das heißt danach, den Sinn seines Lebens jenseits der sozialen Rollen zu finden.

Doch das Konzept der Individualgeschichte als Bildungsgeschichte ist der Anfang vom Ende der Tugend, wie sie MacIntyre versteht. Die zentrale Tugend der Moderne ist es, sich selbst zu verwirklichen. Da aber diese Tugend an keine soziale Rolle mehr gebunden ist, bleibt immerfort, als ein ewiger Stachel, unklar, worin sie inhaltlich besteht und wann sie der einzelne, der sie zu verkörpern wünscht, tatsächlich verkörpert. Die Rolle der Selbstfindung ist der paradoxe Versuch, eine Rolle ohne Rollenbindung zu spielen. Hier entspringt das unglückliche Bewußtsein der Moderne, gegen das es, unter dem Vorzeichen der Moderne, letzten Endes kein anderes Mittel gibt, als auf the greatest happiness for the greatest number zu setzen.

Obwohl niemand sagen kann, was Jeremy Benthams berühmte Forderung nach dem "größten Glück für die größte Zahl" eigentlich bedeutet, lebt sie heute doch machtvoll fort in dem, was oft abschätzig als "Hedonismus" bezeichnet wird. Gemeint ist damit das Bemühen des einzelnen, sein Leben so glücklich wie möglich zu leben, ohne sich viele Gedanken um den sprichwörtlichen Nächsten, geschweige denn um den Zustand der Gesellschaft insgesamt zu machen. Die hedonistische Strategie der Selbstverwirklichung ist typisch für eine Zeit, in der die überlieferten Rollenmuster längst äußerlich geworden sind - Erfordernisse der Anpassung - und das humanistische Bildungsideal als tote Geste verblaßt.

Das Problem der hedonistischen Strategie besteht freilich darin, daß sie das Individuum an die Kette der Lust und, technischer gesprochen, des "rationalen Eigennutzes" legt. Die Gesellschaft, die sich radikal hedonisiert, beginnt, seltsam zwanghaft zu werden: Man muß wissen, was die höchsteigenen Interessen sind, auch wenn man sie oft gar nicht kennt, und dabei wird der Kampf um die guten Positionen der Glücksoptimierung immer härter. Immer stärker beginnt eine evolutionäre Strömung zu wirken, welche die Häßlichen, Dummen und Langsamen auf die schlechten Positionen verschiebt, immer mehr Menschen empfinden sich im Kampf um die Selbstverwirklichung als Verlierer. Man lebt im Schweiß der Versagensangst.

Ich versuche, eine komplexe Situation mit vielen Mehrdeutigkeiten durch grobe Striche zu charakterisieren. Mag sein, zu grob. Doch ich will mein Thema im Auge behalten: Der Lehrer als Erzieher - zur Krise ei- nes sozialen Charakters. Durch die Beifügung "Erzieher" will ich andeuten, daß es mir nicht in gleichem Maße auf alle Funktionen ankommt, die der Lehrer erfüllen muß. So etwa ist er angehalten, lernbares Wissen zu vermitteln. Dazu immerhin eine kurze, eher persönliche Feststellung: Daß von den Schülern immer weniger verlangt werde, ist eine Klage, die in elitebewußten Kreisen immer wieder vorgebracht wird. Ich halte sie für absurd. Der Zufall wollte es, daß ich Einsicht in meine schriftlichen Maturaarbeiten aus dem Jahr 1968 erhielt, gerade als mein Sohn seine eigene Matura ablegte. Das war im Jahr 1996. Mit Ausnahme des Faches Latein war klar: Mein Sohn hatte in den zentralen Fächern mehr gelernt als ich seinerzeit, obwohl unsere Gymnasien vom Typ und von der Reputation her vergleichbar waren.

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