SPIEGEL: Schule -Weg ins Abseits (1)
DER SPIEGEL 49/2002 - 02. Dezember 2002
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,225051,00.html
Schule Direkter Weg ins Abseits
Die Zahl der Schwänzer nimmt dramatisch zu, viele von ihnen driften in die Kriminalität ab. Mit zunehmend rabiaten Methoden versuchen die Behörden, Schulverweigerer zu disziplinieren.
Erst 13 Jahre alt war Sandra, als sie der Schule die Gefolgschaft aufkündigte. Jeden Morgen stand das zarte blonde Mädchen pünktlich auf, tat so, als machte es sich für den Unterricht fertig - und blieb dann, während Vater und Mutter ihren Geschäften nachgingen, in seinem Zimmer. Allein, ratlos, aber auch von einer Last befreit.
Von ihren Mitschülern fühlte sich Sandra verspottet. Mit den Lehrkräften an ihrem Gymnasium kam sie überhaupt nicht zurecht.
Anfangs, erinnert sich das Mädchen aus Düsseldorf, riefen die Pädagogen noch alle zwei Wochen bei ihr zu Hause an, um zu hören, wo sie bliebe. Besorgt klangen sie und manchmal auch verärgert. Sandra nahm die Telefonate regelmäßig selbst entgegen und schaffte es, die sie nervenden Frager abzuwimmeln.
Danach hatte sie wieder Ruhe. Die Lehrer resignierten, die Eltern schienen die Krise ihrer pubertierenden Tochter lange Zeit nicht einmal zu bemerken. Zwei Jahre versäumte die Jugendliche so jeden Unterricht.
In einem Land, das sich dem Pisa-Schock zum Trotz noch immer einiges auf seine Bildungsstandards zu Gute hält, sind Schulschwänzer zu einem erschreckenden Massenphänomen geworden. Etwa eine halbe Million Schüler, hat jüngst die Bertelsmann Stiftung geschätzt, meidet regelmäßig den Unterricht. Schon sehen die Experten ein "gesellschaftliches Problem massiven Ausmaßes".
Zwar bleiben nicht alle Drückeberger gleich wie Sandra jahrelang weg. Aber dass die Schwänzerei an Deutschlands Schulen kein harmloser Kinderstreich mehr ist, zeigt auch eine aktuelle Befragung aus Berlin. Dort hielt sich im vergangenen Schuljahr fast jeder fünfte Hauptschüler mehr als 20 Tage vom Unterricht fern.
Schwänzen ist - besonders in den Hauptschulen - zu einer Art Epidemie geworden, und das Ohne-mich-Virus breitet sich offenbar ständig weiter aus. An zahlreichen Lehranstalten, sagt Maria Schreiber-Kittl, die für das Deutsche Jugendinstitut die Flucht aus den Klassenzimmern erforscht, sei "ein reibungsloser Schulbesuch wohl eher die Ausnahme".
Die Folgen sind dramatisch. Fast zehn Prozent aller deutschen Schüler schaffen keinerlei Abschluss - und so haben sie nur noch minimale Chancen, überhaupt jemals den Einstieg ins Berufsleben zu packen.
Viele Bundesländer versuchen bereits, Problemkinder mit speziellen Hilfsprogrammen zur Umkehr zu bewegen. Doch so richtig scheint das Schulschwänzen in den Kultusministerien erst jetzt als das wahrgenommen zu werden, was es für immer mehr junge Leute tatsächlich ist: ein direkter Weg ins gesellschaftliche Abseits.
Aufgerüttelt hat viele der Fall des 19jährigen Robert Steinhäuser aus Erfurt. Der notorische Schulschwänzer, der schließlich von seinem Gymnasium geflogen war, erschoss vor einem halben Jahr 16 Menschen und sich selbst.
Nun überschlagen sich die Kultusbürokratien der Länder mit Vorschlägen, wie gefrusteten Schülern, nachlässigen Eltern und resignierten Lehrern beizukommen ist:
Bremen prüft, ob Vätern und Müttern, die ihre Kinder nicht regelmäßig in die Schule schicken, das Kindergeld gekürzt werden kann;
Hamburg will den Eltern ebenfalls verstärkt ans Portemonnaie, wenn es beim Schulbesuch der Sprösslinge hapert. "Spätestens bei 50 bis 80 Euro Strafe achten die dann plötzlich sehr genau darauf, ob ihr Kind zur Schule geht", glaubt Hendrik Lange von der Schulbehörde;
Berlin setzt auf zusätzliche Lehrerbesuche in den betroffenen Elternhäusern; in Niedersachsen soll künftig - wie im bayerischen Nürnberg bereits seit September 1998 praktiziert - auch die Polizei beim Aufgreifen von Schulverweigerern helfen.
In dem norddeutschen Bundesland startet im Februar nächsten Jahres ein Pilotprojekt mit dem umständlichen Namen "Programm zur Vermeidung von unentschuldigter Abwesenheit vom Unterricht".
So genannte Helferteams, bestehend aus Lehrern, Psychologen und Sozialarbeitern, sollen Aussteiger umdirigieren. Eltern werden per Vertrag zu beherzterem Einschreiten gegen die Bummelei ihres Nachwuchses verpflichtet.
Mit polizeilichen Kontrollen in Spielhallen, Kaufhäusern oder auf Bahnhofsvorplätzen hoffen die Initiatoren, jugendliche Drückeberger beeindrucken zu können. Greift eine Polizeistreife morgens schulpflichtige Jungen und Mädchen auf, informieren die Beamten umgehend die zuständige Schule.
Anstoß für das Projekt gab eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, dessen Leiter lange Zeit der jetzige niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer (SPD) war. Die Studie, die nun veröffentlicht wird, widerlegt alle, die meinen, massives Schulschwänzen tatenlos hinnehmen zu können.
Die niedersächsischen Forscher haben einen deutlichen Zusammenhang zwischen notorischem Schwänzen und Jugendkriminalität festgestellt. Solche Kinder fallen danach dreimal häufiger durch Ladendiebstähle auf als andere. Wer innerhalb eines Schulhalbjahres mehr als zehn Tage geschwänzt hatte, war an Gewaltdelikten sogar viermal sooft beteiligt wie Jugendliche, die regelmäßig am Unterricht teilnehmen. Schwänzen, so die Wissenschaftler, sei "ein wichtiger Risikomarker drohender Fehlentwicklungen".
Gefährdet sind dabei nicht nur Söhne und Töchter von Familien in sozialen Nöten. Auch verwöhnte Mittelstandskinder kehren der Schule immer häufiger den Rücken.
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