SPIEGEL: Schule -Weg ins Abseits (2)
Denn viele Eltern - egal, wie gebildet oder begütert sie sind - nehmen es mit der Schulpflicht ihrer Sprösslinge nicht mehr so genau. Manche schicken ihre Kinder nach ausgedehnten Ferien einfach ein paar Tage später in die Schule ("Wir haben den Flieger nicht gekriegt"), andere kümmern sich überhaupt nicht darum, ob ihr Nachwuchs wieder mal keine Lust auf die Schule hatte, oder sie decken sogar dessen Fernbleiben. "Die finden das gar nicht schlimm", sagt die Darmstädter Lehrerin Uli Steck. Auch Entschuldigungen kommen immer mehr aus der Mode.
So weite sich, klagt Steck, manche kleine Schwänzerei schleichend zu einer handfesten Schulverweigerung aus - "nach dem Motto, jetzt war es ein Tag, nun bin ich mal eine Woche krank. Kümmert sich ja niemand drum."
Experten sprechen sogar von Wohlstandsverwahrlosung. In der Schule werden gerade Kinder aus so genannten besseren Kreisen jedoch häufig gar nicht als chronische Schwänzer wahrgenommen. Die Gymnasien reichen ihre Sorgenkinder meist an Real- oder Hauptschulen weiter. "Die vertuschen das Problem gern", weiß Karlheinz Saueressig vom Düsseldorfer Schulamt. Saueressig ist Spezialist für Schulschwänzer. 1996 gründete er in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt gemeinsam mit anderen das "Rather Modell". Wer hier in einem der vier Schulverweigererprojekte landet, bei dem haben alle anderen Mittel bereits versagt. Das Aufgreifen der Jugendlichen von einem speziellen Ordnungsdienst beispielsweise hilft nur in den harmloseren Fällen, in denen das Schwänzen nicht mehr ist als eine vorübergehende Mutprobe. Die wirklich hartnäckigen Schwänzer schlüpfen meist, kaum sind sie am Schultor abgeliefert worden, zur Hintertür wieder hinaus.
Bußgelder wiederum werden von vielen Familien, vor allem, wenn sie ohnehin nur von Sozialhilfe leben, einfach ignoriert und sind zudem sinnlos bei Eltern, die auch so schon nicht mehr ein noch aus wissen.
Die Mutter der 17-jährigen Dana etwa. Monatelang war das Mädchen nach der Scheidung der Eltern mit ihren Freunden rumgezogen. "Ich bin mit der Trennung nicht klargekommen", sagt Dana, "da hat mich die Schule überhaupt nicht mehr interessiert."
Die Mutter tat, was besorgte Mütter tun können, wenn ihr Kind plötzlich außer Kontrolle gerät. Sie redete mit ihrer Tochter, holte den Vater zu Hilfe, beriet sich mit dem Schulpsychologen - alles vergebens. "Meine Mutter", bestätigt Dana, "wusste überhaupt nicht mehr, was sie machen sollte."
Der Umschwung kam erst, als sich das Mädchen - von der Mutter überredet
- das Schulverweigererprojekt in der Düsseldorfer Gerricusstraße ansah. "Hier bin ich total gern", sagt Dana, "und das Lernen macht Spaß."
Das wohl auch, weil die Einrichtung im Stadtteil Gerresheim für die maximal 16 Teilnehmer eher ein Zuhause als eine Lehranstalt ist. Es gibt einen Clubraum, eine Werkstatt, eine Küche und - am allerwichtigsten - immer jemanden, der zuhört, wenn die Kinder Kummer haben.
Und die meisten hier haben jede Menge Kummer. Die 14-Jährige etwa, deren Mutter Alkoholikerin war. Der Junge, der allein mit seiner schwer krebskranken Mutter lebte. Das drogenabhängige Mädchen, das bei seiner Oma wohnte und mit dem die Lehrerinnen morgens erst mal zur Drogenberatung gehen mussten. Oder schließlich die 16-Jährige, die von so ausgeprägten Phobien gequält wurde, dass sie es allenfalls bis zur Schultür schaffte und dann schreiend wieder abdrehte.
"Zu der sind wir nach Hause gegangen und haben sie dort unterrichtet, bis sie irgendwann doch im Stande war, zu uns zu kommen", sagt Roland Kühler, der im Düsseldorfer Stadtteil Flingern einen 400 Quadratmeter großen Werkhof leitet. Außer Englisch, Deutsch und Mathematik lernen seine Problemkinder hier auch zu werkeln, zu malen und in einem schuleigenen Catering Service ein wenig für den Ernstfall Berufsleben zu proben.
"Viel wichtiger als alle Unterrichtsangebote", sagt Lehrer Kühler, "ist es, ihnen immer wieder Kontakte anzubieten, damit sie Vertrauen fassen." Das nämlich sei es, "was die Schule nicht kann, und deshalb fallen die raus".
Eine Beobachtung, die viele Wissenschaftler teilen. Nach einer Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts etwa berichten 23 Prozent der Schwänzer, dass weder die Schulleitung noch die Lehrer auf ihre Abwesenheit irgendwie reagierten oder sich nach der Rückkehr in die Schule dafür interessierten.
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