NZZ 09 12 02

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Das Klassenzimmer als kulturbildender Raum

Studie über eine Oberstufenklasse

urs. Der Begriff «multikulturelle Klassen» ist seit einiger Zeit Gegenstand meist problemorientierter Abhandlungen. Die Zürcher Sozialpsychologin und Volkskundlerin Gisela Unterweger beleuchtet das Thema in ihrer jüngsten Arbeit von einer bisher wenig bekannten Seite, was den Begriff «Multikulturalität» belebt und entschärft. Als Anschauungsmaterial diente das Oberstufenschulhaus Riedenhalden in Zürich Affoltern: Zwanzig Schülerinnen und Schüler der 2. Realklasse, aus zwölf Nationalitäten zusammengesetzt, hat die Autorin beobachtet und befragt. Untersuchungsgegenstand war die Frage, inwieweit und in welcher Form Jugendliche im multikulturellen Umfeld eine kulturelle Identität entwickeln.

Vielschichtige Momentaufnahmen
Das Resultat ist mit Unterstützung der öffentlichen Hand in der Reihe «Zürcher Beiträge zur Alltagskultur» unter dem Titel «Klasse und Kultur - Verhandelte Identitäten in der Schule» erschienen. Nach dem Aufarbeiten der wissenschaftlichen Grundlagen in den ersten Kapiteln stellt die Autorin das Schulhaus und dessen Umfeld vor, um dann die Klasse zu beleuchten. Dieser zweite Teil liefert einprägsame, vielschichtige Momentaufnahmen einer multikulturellen Schulklasse und der Träume, Ängste sowie Ziele ihrer Mitglieder, was das Werk für alle an Jugendthemen Interessierten lesenswert macht. Das untersuchte Material reicht von auf Holzbänke gekritzelten Schülersprüchen über Einzelporträts bis zu Beobachtungen im Klassenraum.

Kultur als täglich ausgehandeltes Gut
In der betreffenden Klasse herrscht, wie die Lektüre deutlich macht, ein weitgehender, laufend angepasster Konsens über Konsumgüter und andere Ikonen der Jugendkultur, wobei Fernsehsendungen besonders stilprägend wirken. Kultur wird gemäss These der Autorin weder vererbt noch aufoktroyiert, sondern ist das Ergebnis alltäglicher (Ver-)Handlungen, Wertungen und Äusserungen, die grossteils im Klassenzimmer stattfinden. Dieses übernimmt somit bei der kulturellen Prägung eine weit wichtigere Funktion als das Herkunftsland der Schüler. Die gemeinsame kulturelle Basis als Mischgewebe aus verschiedenen Einflüssen interpretiert die Autorin dahingehend, dass Kinder Zugewanderter diesbezüglich - entgegen der Stossrichtung anderer Untersuchungen - nicht als Spezialfall gesehen werden sollten.

Argumente gegen separierte Schulung
Daran anknüpfend, liefert das Buch Argumente dafür, wie sehr eine dauerhafte separierte Schulung von Migrantenkindern dem Integrationsgedanken
zuwiderliefen: Die Ausgrenzung enthielte ihnen die Chance vor, an der täglichen Verhandlung kultureller Unterschiede und der daraus erwachsenden gemeinsamen Basis teilzuhaben.

Die Studie verschweigt nicht, dass die unterschiedliche Herkunft in multikulturellen Klassen zu Problemen führen kann. Zu den Gemeinsamkeiten der befragten Jugendlichen, unbesehen ihrer Herkunft, gehört die hohe Bedeutung des Anerkanntwerdens und die Angst vor der Aussenseiterrolle. Hier wird die ethnische Herkunft zum Risikofaktor für Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung, wie an Beispielen gezeigt wird. Werde gesellschaftliche Anerkennung auf Grund der Herkunft per se abgesprochen, so die Autorin, sei die freie Entwicklung einer kulturellen Identität unmöglich. Der daraus abzuleitende Teufelskreis bilde einen Nährboden für Frustration und Gewalt, dessen Entstehen es zu verhindern gelte.

Gisela Unterweger: Klasse und Kultur. Zürcher Beiträge zur Alltagskultur, Band 12, Hrsg. Ueli Gyr und Johanna Rolshoven, Zürich 2002. 232 Seiten, 34 Franken. ISBN 3-908784-01-8.



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