Frankfurter Rundschau, 11 12 02

Die Mediatorin

Hanifa Cherifi berät französische Lehrer in Islam-Fragen

Von Ulrike Heitmüller

D er Junge sitzt im Klassenzimmer einer französischen Schule und spuckt auf den Boden. Mitten im Unterricht, vor den Mitschülern, ohne sich um die Lehrerin zu scheren. Die ist fassungslos: "Was soll das?" Der Junge zuckt die Schultern. "Ich bin Muslim, es ist Fastenmonat Ramadan, da darf ich meinen Speichel nicht runterschlucken." In einer anderen Schule beginnt eine Gruppe Halbwüchsiger, sich in den Pausen auf dem Flur zu versammeln. Was sie dort machen, will ein Lehrer wissen. "Wir beten", ist die knappe Antwort. Der Lehrer denkt an den 11. September, ist besorgt. In einem Pariser Randbezirk kommt ein 16-jähriges Mädchen marokkanischer Herkunft plötzlich nur noch mit Kopftuch in die Schule. Die Lehrer sind ratlos, die Eltern erst recht.

Drei typische Fälle für Hanifa Cherifi. Wenn ein Lehrer irgendwo in Frankreich, sei es in der Bretagne, in der Normandie, in Paris oder auch an der Côte d'Azur ein Problem mit muslimischen Schülern hat, wendet er sich an die 49-jährige Französin, die auch die algerische Staatsbürgerschaft hat. Sie ist ihre Mediatorin, die Ansprechpartnerin für alle Fragen, die mit dem Islam zu tun haben. "Die Lehrer wissen oft nicht, wie sie mit muslimischen Schülern umgehen sollen. Einen katholischen Schüler, der auf den Boden spuckt, würden sie auf die Toilette schicken. Bei einem Muslim sind sie hilflos", sagt Expertin Cherifi.

Erziehung ist in Frankreich die Aufgabe des Staates, und das französische Schulwesen wird durch eine Masse von Gesetzen geregelt, die gute zwei Dutzend dicke Bände füllen. "Aber es gibt keine Gesetze, die von spuckenden und betenden Jungen handeln", sagt sie. Die Unsicherheit der Lehrerinnen und Lehrer hat eine lange Geschichte. Vor zwölf Jahren bestanden zwei muslimische Mädchen darauf, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Das jedoch war nicht erwünscht, weil Frankreich ein laizistischer Staat ist und staatliche Schulen auch laizistisch zu sein haben.

In Frankreich tragen zudem nur sehr wenige Frauen ein Kopftuch, weil die meisten muslimische Einwanderer aus nordafrikanischen Ländern stammen, wo Kopftuch und Schleier keine lange Tradition haben. Erst durch das Erstarken des Islam Ende der 70er und in den 80er Jahren ist der Schleier in Nordafrika aufgekommen. Nur etwa die Hälfte der Mädchen, schätzt Hanifa Cherifi, tragen ihr Kopftuch, weil es von der Familie gefordert wird. Die andere Hälfte trägt es aus freien Stücken. Die französischen Schülerinnen setzten damals eine hitzige Diskussion in Gang, die wochenlang Schlagzeilen machte.

Seinerzeit wurde der "Haut Conseil de l'intégration" gegründet, in dem die Mediatorin Mitglied ist. Dieser "Hohe Rat der Integration" ist in Frankreich das oberste Gremium, das sich mit der Integration von Ausländern beschäftigt. Dass Muslime nicht in die französische Gesellschaft integriert sind, glaubt Cherifi, könne nicht die Ursache für die ganze Aufregung sein. Schließlich tragen auch manche jüdische oder katholische Schüler religiöse Zeichen, nur eben in Privatschulen. Muslimische Privatschulen gibt es in Frankreich jedoch kaum.

Zudem sei der Anlass für den Kopftuchstreit vergleichsweise geringfügig
gewesen: "Es ging 1989 um eine Schule mit 800 Schülern. 500 davon kamen aus Familien muslimischer Einwanderer, und gerade einmal zwei Mädchen wollten ein Kopftuch tragen." Diese fanden jedoch viele Nachahmerinnen. 1994 trugen etwa zwei- bis dreitausend Mädchen ein Kopftuch, und allein von September bis November 1994 wurden etwa 100 Mädchen deswegen vom Unterricht ausgeschlossen. Der Hohe Rat sollte dies einzuordnen helfen. "Bei der Arbeit des Gremiums geht es auch darum, die Bedeutung des Kopftuchs für die französische Gesellschaft zu erfassen."

Und diese ist groß, sagt Hanifa Cherifi, "es stellt die Gesellschaft in Frage". Wenn muslimische Jugendliche in Frankreich mit religiösen oder pseudo-religiösen Verhaltensweisen auffallen, trage das eine besondere Bedeutung in sich. Viele Muslime sind Immigranten aus der ehemaligen Kolonie Algerien. "Man kann nur jemanden kolonialisieren, den man als unterlegen ansieht. Diese Erinnerung ist unerträglich für die Franzosen, denn für sie ist Frankreich das Mutterland der Menschenrechte." Dessen sollten sich die Erwachsenen bewusst sein, damit sie besonnen reagieren und nicht die Schüler vom Unterricht ausschließen.

"Wie geht man mit Menschen um, die ihre Religionszugehörigkeit so deutlich zeigen - genau dies halte ich für die richtige Frage", sagt die Mediatorin. Ihre Sorge: Die Mädchen schaden sich selbst: "Wenn ein 12-jähriges Mädchen ein Kopftuch trägt, dann heißt das, dass sie heiratsfähig ist." Dann ist sie nicht mehr eine Schülerin von vielen, wird zur Außenseiterin. Außerdem versäumt sie einen Teil des Unterrichts, denn das Kopftuch ist im Sport verboten. Hanifa Cherifi spricht mit den Schülerinnen und Schülern, und sie schult Lehrer, damit die mit den Heranwachsenden richtig umgehen. Im Jahr 2000 gab es noch etwa 400 Mädchen, die das Kopftuch trugen; andere tragen es in ihrer Freizeit, nehmen es ab, wenn sie das Schulgelände betreten.

Wie dem auch sei, handele es sich nun um das Kopftuch, um Spucken oder Beten - Hanifa Cherifi findet, dass die Reaktionen darauf oft übertrieben sind. Denn oft seien Verhaltensweisen schlicht und einfach auch pubertär bedingt.



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