Die ZEIT 50/2002
http://www.zeit.de/2002/50/Schavan_2fSchleicher-Interv_
Freiheit für die Schule (1)
Was ist in Deutschland seit Pisa passiert? Ein Gespräch über lernende Politiker, geknebelte Pädagogen und die Gesamtschule mit Kultusministerin Annette Schavan und dem Pisa-Koordinator Andreas Schleicher
die zeit: Frau Schavan, vor einem Jahr verpasste die Pisa-Studie unseren Schulen ein miserables Zeugnis. Warum ist seitdem so wenig passiert?
Annette Schavan: Den Eindruck habe ich nicht. In Deutschland ist man mit negativen Urteilen über die Schule schnell bei der Hand. Ich meine, dass sehr viel mehr geschehen ist, als die Öffentlichkeit wahrnimmt. Dank Pisa sind die Schulen wie auch die Bildungspolitik einen Riesenschritt weitergekommen. Alle Bundesländer haben sich an die Arbeit gemacht: Es gibt Sprachkurse für Schüler mit Deutschproblemen, überall stärken wir die Grundschule. In Zukunft werden alle Kinder früher die Chance zum Lernen haben. Das sind greifbare Fortschritte: Als wir in Baden-Württemberg vor fünf Jahren eine frühere Einschulung propagiert haben und in den Grundschulen den klassenübergreifenden Unterricht einführten, gab es eine Welle der Empörung. Heute herrscht darüber Konsens.
zeit: Bis diese Reformen greifen, wird es aber Jahre dauern.
Schavan: Pisa war ja auch das Ergebnis von 30 Jahren Bildungspolitik in Deutschland. Dazu gehörte zum Beispiel der Glauben, weniger Leistung diene der sozialen Gerechtigkeit. Es gab sogar den Eindruck, Schule sei ein unsittlicher Anschlag auf das Glück von Kindern. Auch das haben wir nicht zuletzt dank Pisa überwunden.
zeit: Das ging in Richtung der SPD. Haben auch Konservative von Pisa gelernt? Etwa dass wir Talente verschwenden, wenn wir Kinder so früh wie in Deutschland selektieren?
Schavan: Das Motto, alle haben Schuld, weise ich zurück. Wo Leistung etwas zählt, ist auch die soziale Gerechtigkeit höher, das hat Pisa gezeigt.. Im Süden haben wir trotz höherer Gesamtleistung weniger Schulversager und Sitzenbleiber. Und auch unsere Migranten schneiden besser ab.
zeit: Also brachte Pisa für Sie nicht viel Neues?
Schavan: Doch natürlich. Wir haben gelernt, dass unsere Lehrer Probleme damit haben, Schüler unterschiedlicher Leistung in einer Klasse angemessen zu unterrichten. Wir wissen jetzt, dass der so genannte fragend-entwickelnde Unterricht, bei dem der Lehrer der Regisseur jeder Stunde ist, nicht die gewünschten Ergebnisse bringt. Kein CDU-Land pflegt Selbstzufriedenheit.. Im
Gegenteil: Wir nutzen unsere gute Ausgangsposition, um in die internationale Spitzengruppe vorzustoßen.
zeit: Wird das gelingen, Herr Schleicher?
Andreas Schleicher: Das werden die Pisa-Ergebnisse 2003, 2006 und 2009 zeigen. Richtig ist, dass kaum eine Nation die Studie so intensiv diskutiert hat wie Deutschland. Was ich jedoch vermisse, ist eine strategische Diskussion über die langfristigen Ziele des Bildungssystems. Der Kernpunkt der deutschen Debatte scheint es mitunter zu sein, wie man ein paar zusätzliche Lehrerstellen finanziert oder ob man die Gravitationslehre in der achten oder neunten Klasse unterrichtet.
zeit: Sind Sie also enttäuscht?
Schleicher: Deutschland hat einen großen Erkenntnissprung gemacht. Vor drei Jahren hat es an einer Kindergartenstudie mit der Begründung nicht teilgenommen, der Kindergarten gehöre nicht zum Bildungsbereich. Heute sieht man das anders. Darüber hinaus jedoch muss man fragen, wo das Land in 10 oder 20 Jahren stehen will. Bildungssysteme sind große träge Tanker. Da bringt es wenig, wenn die Mannschaft von einer Seite auf die andere rennt, sondern entscheidend ist, dass der Kurs korrigiert wird.
zeit: Was wären denn die wahren Fragen?
Schleicher: Im Jahr 2020 wird sich die Arbeitswelt so verändert haben, dass Deutschland höchstens noch zehn Prozent Handarbeiter braucht. Der Rest wird mit dem Kopf arbeiten. Schon jetzt muss sich dieses Land überlegen, wie es das Bildungssystem weiterentwickelt, um diese Menschen optimal auszubilden.
zeit: Sind andere Länder da weiter?
Schleicher: Die bei Pisa erfolgreichen Staaten haben sich klar definierte Bildungsziele gesteckt, und zwar nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. So hat Finnland beschlossen, die Quote der Schüler mit Hochschulzugang auf 80 Prozent zu erhöhen, und 70 Prozent eines Altersjahrgangs beginnen dort bereits heute ein Hochschulstudium. Andere Länder haben überlegt, wie sie ihr Bildungssystem so verändern, dass jeder Schüler seine Begabungen optimal entfalten kann. In Deutschland gilt noch immer eher die umgekehrte Regelung: Der Lernende muss sich den Strukturen anpassen. Das schlägt sich auch auf die Zufriedenheit der Schüler nieder.
zeit: Inwiefern?
Schleicher: Wenn wir Schüler fragen, ob sie sich gut betreut fühlen und sich mit ihren individuellen Bedürfnissen in der Schule wiederfinden, bekommen wir in Deutschland viele negative Antworten.
Schavan: Auch in Deutschland haben wir strategisch umgesteuert. Lange haben wir geglaubt, dass möglichst genaue Lehrpläne und viele Verwaltungsvorschriften gute Schulen garantieren – und haben vergessen, diese Qualität in ausreichendem Maß zu testen. Heute wissen wir, dass wir umgekehrt vorgehen müssen: Die Schulen brauchen mehr Freiheit, im Gegenzug müssen sie sich an konkrete Bildungsstandards halten, die regelmäßig geprüft werden. Genau dies hat die Kultusministerkonferenz beschlossen. Wir werden die Standards 2004 umsetzen. Damit können wir Schulen in Zukunft besser miteinander vergleichen. Rascher ist das seriös nicht machbar. Schnellschüsse aus Ungeduld schaffen keine Qualität.
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