Die ZEIT 50/2002

http://www.zeit.de/2002/50/Schavan_2fSchleicher-Interv_

Freiheit für die Schule (2)

zeit: Ist der Föderalismus der große Bremser in Deutschland, Herr Schleicher?

Schleicher: Dieser Punkt wird überschätzt. Es gibt andere föderale Länder wie Kanada, deren Bildungssysteme sehr erfolgreich sind. Ein größeres Reformhindernis ist die zentrale Steuerung der Schule. In Deutschland herrscht immer noch der Zentralismus vor, und das gleich 16-mal. In keinem anderen Land – außer Italien – verspüren Schulen bei der Gestaltung der Lernumgebung und den Lehrinhalten sowie bei der Auswahl der Lehrer so wenig Freiraum, eigene Verantwortung zu übernehmen wie in Deutschland.

Schavan: Auch da hat sich in Deutschland viel getan. In Baden-Württemberg etwa ist es in Zukunft nicht mehr vorgeschrieben, wie viele Stunden am Unterricht welches Fach bekommt. Vielmehr gibt es nur noch ein Kerncurriculum, das wie eine Art Grundwortschatz den Rahmen vorgibt. Zudem durften die Schulen bereits in diesem Jahr ein Drittel aller Stellen selbst
besetzen: Sie haben die Stelle ausgeschrieben, die Auswahlgespräche mit den Bewerbern geführt und sich dann für den besten Kandidaten entschieden.

zeit: Das heißt aber, in 70 Prozent der Fälle müssen die Schulen weiterhin mit den Lehrern vorlieb nehmen, die ihnen die Behörde zuweist.

Schavan: Wir wollen die Personalverantwortung der Schulen weiter stärken. Andererseits hat die Bildungspolitik eine Verantwortung, alle Schulen gleichmäßig mit Lehrern zu versorgen. Eine Stelle in Freiburg oder Heidelberg ist attraktiv und leicht zu besetzen. Doch auch auf der Ostalb haben wir Schulen, und dort will nicht jeder hin.

zeit: Könnte ein höherer Ortszuschlag locken?

Schavan: Und wo kommen die Mittel her? Ich kann sie ja anderen Lehrern nicht wegnehmen. Was in Deutschland zudem fehlt, ist eine leistungsbezogene Bezahlung. Da sind wir bislang über kleine Leistungsprämien nicht hinausgekommen. Auch da brauchen wir mehr Spielräume…

zeit: …was das allgemeine Besoldungsrecht für Beamte verhindert.

Schavan: Wenn die Evaluation zum Alttag der Schule gehört, dann wird auch die Frage, was der einzelne Lehrer leistet und wie er dafür belohnt werden soll, automatisch wichtiger werden. Das gilt auch für die Verpflichtung zur Fortbildung und die Frage, was geschieht, wenn sich ein Lehrer dem Ganzen entzieht.

zeit: Entlassen können Sie niemanden.

Schavan: Die Spielräume des Beamtenrechts sind eng. Da werden noch viele Verhandlungen notwendig sein. Insgesamt jedoch bin ich zuversichtlich. Die Bereitschaft der Schulen, sich mit anderen zu messen, oder die Einsicht der Lehrer, sich fortzubilden, ist größer, als viele glauben.

Schleicher: Es ist seltsam. Bei der Bestrafung von Schülern ist Deutschland Spitze. Fasst man Rückläufer und Wiederholer in Deutschland zusammen, kommt man zu dem Ergebnis, dass etwa ein Drittel der 15-Jährigen eine Schullaufbahn hinter sich hat, die durch gravierende Misserfolge gekennzeichnet ist, deutlich mehr als im OECD-Mittel. Aber wenn wir über die Leistungsverantwortung von Lehrern und Schulen sprechen, tauchen plötzlich sehr komplexe Verwaltungsaspekte auf.

zeit: Sehen Sie noch andere Tabus in der deutschen Debatte?

Schleicher: Die Schulform scheint ein Tabu zu sein. Dabei zeigen alle internationalen Vergleiche, dass kein erfolgreicher Staat auf eine so frühe Auslese und scharfe Abgrenzung wie Deutschland setzt. Vielmehr versuchen diese Länder, ihre Bildungssysteme für jeden möglichst offen zu gestalten und jeden Schüler individuell zu fördern.

Schavan: Darüber kann man streiten. Mexiko etwa hat die sechsjährige Grundschule und ist bei Pisa Letzter. Polen lässt die Kinder acht Jahre gemeinsam zu Schule gehen und schneidet nicht besser ab als Deutschland. Und auch Frankreich liegt mit seinem integrierten System nur im Mittelfeld.

Schleicher: Natürlich gibt es immer Länder, die noch schlechter sind. Wäre ich ein Bildungspolitiker, würde ich diese Länder jedoch schnell vergessen und mich stattdessen fragen, was die Besten anders machen. Und unter den erfolgreichsten Nationen findet sich kein Land, in dem viele Schüler ihr Leistungspotenzial nicht erreichen, weil sie irgendwann auf die falsche Schullaufbahn geraten.

Schavan: Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen den Schülerleistungen eines Landes und seinen Bildungsstrukturen. Und kein Wissenschaftler hat uns nach Pisa gebeten, nun eine intensive Debatte über die Notwendigkeit von Gesamtschulen zu führen.

zeit: Sondern?

Schavan: Der Rat geht dahin, die unterschiedlichen Schulformen so durchlässig wie möglich zu machen. Daran müssen wir arbeiten. Das heißt, es kann nicht darum gehen, die Schüler in Zukunft noch mehr zu differenzieren. Vielmehr müssen Lehrer lernen, besser mit Leistungsunterschieden umzugehen. Dafür brauchen wir jedoch nicht unsere Schulstruktur zu ändern. Das führt nur zu den Geisterdebatten wie vor 30 Jahren.

Schleicher: Es wäre dumm, alle Diskussionen darauf zu konzentrieren, die Schulstrukturen zu verändern. Nur, denke ich, sollte man sich den Gedanken erlauben, wo man in 20 Jahren stehen will. Und da gibt uns Pisa sehr klar die Zielrichtung vor. Der enge Zusammenhang zwischen fehlender Chancengleichheit und früher Schülerauslese ist heute nicht mehr umstritten. Das war vor einem Jahr vielleicht noch anders.

zeit: Kann die CDU es sich also leisten, die Gesamtschule zum Tabu zu erklären?

Schavan: Die CDU-regierten Länder können erst einmal für sich in Anspruch nehmen, weiter zu sein als die anderen Bundesländer, sowohl was die Leistung als auch was Chancengleichheit betrifft. Die beiden Länder mit den geringsten sozialen Unterschieden bei den Bildungsleistungen heißen Sachsen und Baden-Württemberg.

Schleicher: Das stimmt, aber eben nur im nationalen Vergleich. Weder in puncto Chancengleichheit noch bei der Leistung liegt ein deutsches Bundesland in der internationalen Spitze.

Schavan: Ich plädiere dafür, die Pisa-Daten nicht überzustrapazieren. Wenn wir wieder Strukturfragen in den Vordergrund stellen, führt das dazu, andere wichtige Fragen zu vergessen, etwa, wie man den Unterricht verändert oder die Lesefähigkeit verbessert. Eine bessere individuelle Förderung können wir ebenso in unserem gegliederten Schulsystem erreichen.

Schleicher: Kein Land soll sein System sofort über den Haufen werfen. Aber ich bezweifle, dass Deutschland langfristig sein größtes Problem – der überragende Einfluss der Herkunft eines Schülers auf seine Leistungen – im gegliederten System lösen kann.

Das Gespräch führte Martin Spiewak




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