Frankfurter Rundschau 11 12 02
Die Stunde der Schulentwicklung
Von Hans-Günter Rolff
Pisa bewegt die Debatte über Schulreform; sie bewegt die Debatte mehr als die Schulen selbst. Verbesserungsvorschläge sind fast so zahlreich wie die Pisa-Studie Seiten zählt. Aber fast alle beziehen sich auf Behördenhandeln, Bildungspolitik, zentrale Programme und Standards. Also auf die Systemebene.
Doch die Ebene der eigentlichen Akteure ist die einzelne Schule. Hier passiert auffällig wenig. Viele Schulen verdrängen die Pisa-Herausforderung mit den unterschiedlichsten Argumenten, die meist gar keine sind: "Wenn Schüler bei uns ankommen, ist es viel zu spät; es liegt an der Grundschule"
oder: "Das Gymnasium ist gar nicht betroffen; ohne die anderen Schulformen wären wir Weltspitze." Und: "Es sind die Migranten-Kinder, die uns herabziehen." Und Ähnliches mehr.
Dies sind nicht nur Schnappschüsse aus Pausengesprächen, sondern es handelt sich um Eindrücke, die sich inzwischen empirisch erhärten lassen. Erste Studien in Brandenburg und England zeigen, dass selbst Schulen, die die Ergebnisse von Pisa-ähnlichen Leistungsvergleichen individuell, d. h. spezifisch für diese Schule mit Vergleichswerten zu den anderen rückgemeldet bekommen, kaum darauf reagieren: Rund 80 Prozent legen sie folgenlos zur Seite, nur 20 Prozent handeln. Das sind vermutlich die 20 Prozent, die ohnehin aktiv Schulentwicklung betreiben.
Dabei wäre gerade nach Pisa intensive Schulentwicklung angebracht, und zwar für alle Schulen und vor allem für die schwachen. Jede einzelne Schule ist aufgerufen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und ihre Zukunft zu gestalten. Sogar eine gute Schule muss in Zeiten turbulenten Wandels jeden Tag gewissermaßen neu erfunden werden. Die Schulentwicklungsforschung zeigt: Die Einzelschule ist die Gestaltungseinheit, ist der Motor der Entwicklung. Das wissen wir spätestens seit dem Scheitern der großformatigen zentralen Reformvorhaben wie dem Bildungsgesamtplan in der alten Bundesrepublik.
Die Lehren aus dem Scheitern der großen Reformprojekte scheinen wir heute vergessen zu haben, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da ihre Beherzigung am dringlichsten erscheint. Liegt es daran, dass die zentralen Behörden keine große Begeisterung für Schulentwicklung aufbringen? Denn wenn Schulen selbst Verantwortung für ihre Entwicklung übernehmen, müssen die Behörden vieles abgeben, woran sie seit Jahrhunderten hängen: Personalpolitik (vor allem Einstellungen und Beförderungen), Genehmigungen oder detaillierte Lehrplan-Vorgaben.
Was aber sind die Lehren aus Prozessen erfolgreicher Schulentwicklung? Kurz gefasst handelt es sich um zehn Vorhaben, die am Beginn einer Schulentwicklung stehen können; ich nenne sie Startpunkte.
1. Arbeitstechniken der Schülerinnen und Schüler trainieren: Methoden, Kommunikation und Kooperation als Grundlage selbstständigen Lernens.
2. Schülerfeedback einholen: Informationen/Daten darüber erheben, was Schülerinnen und Schüler beim Lernen hindert und was ihnen hilft, und diese zur Verbesserung des Unterrichts nutzen.
3. Teams bilden: zusammenarbeiten, sich gegenseitig helfen und voneinander lernen - bei Lehrern wie bei Schülern.
4. Zielorientiert handeln: in Klassen, Jahrgängen und Fachgruppen gemeinsam Ziele vereinbaren und sie auf unterschiedliche Weise anstreben, Schüler und Schülerinnen durch Ziele führen.
5. Evaluieren: Erreichtes und die eigene Wirksamkeit datengestützt überprüfen.
6. Fachkonferenzen aktivieren: Halb- oder Jahresziele klären, gelungene Praxis austauschen und Fachdidaktik beleben.
7. Förder-Diagnostik trainieren und anwenden, Förderpläne aufstellen.
8. Dialogisch und pädagogisch führen, aber Schulleitungen sind mehr als primus inter pares.
9. Eltern informieren, einbeziehen und teilhaben lassen: Alle sind für Qualität verantwortlich.
10. Rechenschaft nach außen tragen: Öffentliche Bildung muss öffentlich werden.
Dieser Katalog behauptet keine Rangfolge und keine Dogmatik. Jede Schule hat einen eigenen Entwicklungspfad. Man kann überall anfangen. Schulentwicklung ist an die jeweiligen Eigenarten der Schulen gebunden.
In vielen Schulen weiß man häufig nicht, wo Schulentwicklung beginnen soll, es ist einfach zu viel zu tun. Ich ermuntere diese Schulen, nicht an allen möglichen Stellen anzufangen, sondern dort, wo es am besten passt. Das können besondere Stärken sein, unverhoffte Anlässe oder deutliche Defizite. Entscheidend ist allein, dass Schulleitung und ein entschlossener Teil der Lehrpersonen sich einig sind, Verbesserungen herbeiführen zu wollen.
Rezepte und Patente gibt es nicht, dafür aber mindestens drei Gewissheiten: Schulentwicklung kann erstens nur gelingen, wenn sie strikt auf Schülererfolge bezogen ist, wenn ständig und nimmermüde gefragt wird: Nutzt unser Entwicklungsvorhaben auch dem Schülerlernen, gibt es zumindest einen deutlichen und nachweisbaren Zusammenhang? Die Verbesserung der Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler ist der ultimative Bezugspunkt.
Schulentwicklung muss sich zweitens bewusst und stetig am Qualitätskreislauf
orientieren: Ziele müssen gemeinsam geklärt, konkretisiert, kleingearbeitet und vereinbart werden, um daran Maßnahmen zur Realisierung anzuschließen, die regelmäßig überprüft und eventuell korrigiert werden. Alles, was getan wird, soll der kontinuierlichen Verbesserung dienen. Der Satz "Für Zieldiskussionen haben wir keine Zeit, wir müssen unterrichten" ist zwar immer noch in Schulen zu hören, aber er klingt zunehmend antiquiert.
Schulentwicklung ist drittens ein nicht endendes Qualifizierungsvorhaben - und zwar der Qualifizierung von Lehrpersonen und Schulleitungen. Niemand hat mehr ausgelernt, im gewissen Sinne bleiben wir alle Anfänger - möglichst auf dem sicheren Grund bewährter Routinen. Fast alles ändert sich ständig, Kindheit und Jugend, wissenschaftliche Erkenntnisse, Produktionsweisen und Lebensformen. Deshalb müssen Lehrer auch Lerner sein, unaufhörlich und ohne absehbares Ende. Leiter müssen führen, managen und moderieren, mehr und anders als noch vor wenigen Jahren. Neue Aufgaben kommen hinzu - Personal- und Budgetmanagement, Qualitätssicherung und -entwicklung.
Schulen schaffen die Schulentwicklung häufig nicht allein, schon gar nicht die schwachen. Sie benötigen Unterstützung. Hier können wir von den Niederlanden lernen: Unterstützung und Qualifizierung gehen hier zusammen. Schulen können sich Fach- und Prozessbegleiter in die Klassen holen, für ein paar Wochen oder von Zeit zu Zeit über ein Jahr. Die Begleitung wird per Vertrag geregelt, nachdem die Ziele vereinbart sind und geklärt ist, woran man deren Erreichung feststellen kann.
Für dieses System wird zwar deutlich mehr ausgegeben, als wir in Deutschland gewohnt sind. Aber es ist auch deutlich wirksamer. Es lohnt sich also.
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