Gefunden unter:
http://www.3sat.de/index.html


Wenn Präsidenten lügen
Daniel Ellsberg und die Pentagon Papers

Daniel Ellsberg, brillanter Polit-Denker und Harvard-Absolvent, hat die Hölle erlebt: Vietnam, das amerikanische Trauma. Während des Vietnam-Krieges war er Berater im Pentagon und für das US-Außen- ministerium in Vietnam. Nun - in wiederum kriegerischen Zeiten - hat er seine Memoiren veröffentlicht, Innenansichten eines unnötigen Krieges.

Die Erfahrungen, die er damals gemacht habe, seien nicht wirklich am Verschwinden, wir durchlebten sie gerade wieder: "Sie führen uns zurück ins Jahr 1964, als ich zum ersten Mal für das Pentagon arbeitete", meint Ellsbert. "Wir erleben gerade wieder eine Tonking-Golf-Resolution, eine Art Tonking-Golf 2, die einem Einzigen, dem Präsidenten, Macht über Krieg und Frieden überträgt - auf eine Art, die ganz klar der Verfassung widerspricht und geradezu das Gegenteil dessen ist, was der Rahmen unserer Verfassung beabsichtigte. Unser gewählter König führt uns in einen unnötigen und sehr gefährlichen Krieg, genau wie es Lyndon Johnson 1964 getan hat.


Die Tonking Golf-Resolution führte die USA in den offiziellen Krieg gegen Nordvietnam. Exakt dieser Tag, der 4. August 1964, war Daniel Ellsbergs erster Arbeitstag im Stab von John McNaughton, dem engsten Berater von Verteidigungsminister Robert MacNamara. Ellsberg wird Zeuge einer Polit-Inszenierung, die Amerika in den Abgrund stürzen wird. Ein angeblicher Torpedo-Angriff gegen einen US-Zerstörer im Golf von Tonking soll Amerikas Kriegserklärung rechtfertigen. Der Kongress ermächtigt Präsident Lyndon B. Johnson zum Krieg - als Antwort auf eine nordvietnamesische Provokation, so die offizielle Lesart.

Ellsberg sagt, er habe gewusst, dass jedes einzelne dieser Statements falsch gewesen sei: "Ich war noch nicht sicher, dass es keine Attacke gegeben hatte, das wurde ich mir erst in der Folge klar. Aber in dieser bestimmten Nacht wusste ich natürlich, dass der Beweis mehr als zweifelhaft war. Ich war skeptisch, ob es überhaupt eine Attacke gegeben hatte. Und falls es eine gegeben hätte, wäre sie nicht unprovoziert gewesen. Wir hatten bewusst provokante Aktionen unternommen und beabsichtigten, den Krieg auszuweiten, im Gegensatz zu dem, was der Präsident äußerte." Die Eskalation in Vietnam, so Ellsberg, sei vorgezeichnet gewesen. Ohne direkte Bedrohung der eigenen Existenz entwickelte sich die Spirale eines Krieges, der nie zu gewinnen war. Eine Administration ließ eskalieren, verfangen in politischen Ambitionen, Eitelkeiten, Machtspielen - unfähig zur klaren Analyse.

Das Überraschende daran sei, so Ellsberg, dass Lyndon Johnsons Aussichten, 1969 wiedergewählt zu werden, viel besser gewesen wären, wenn er nicht 500.000 Soldaten nach Vietnam geschickt hätte. Warum er es dennoch getan hat? Ellsberg vermutet, der Präsident habe nicht als schwach und unmännlich erscheinen wollen: "Genauso wie gerade jetzt viele Leute im Senat und sonst wo auf der Welt einen auch aus ihrer Sicht völlig unnötigen, zum Scheitern verurteilten Krieg unterstützen, nur aus Angst, der Schwachheit bezichtigt zu werden."


Ellsberg übergab geheime Papiere der New York Times

Vietnam und Irak. Zwei Konflikte, in denen die USA unmittelbar nie bedroht waren. Kriege weit weg, am anderen Ende der Welt. Blutige Phantom-Kriege, verwaltet von Administrationen, die zur Geheimhaltung verpflichtet, Truppenbewegungen verwalten. Im fernen Washington sieht der Krieg anders aus. Ellsberg machte sich in Vietnam vor Ort kundig und erkannte, dass die amerikanischen Anstrengungen hoffnungslos waren: "Wir befanden uns in einer hoffnungslosen weiträumigen Patt-Situation auf unbestimmte Zeit. Und wir töteten Menschen ohne Ende. Das musste aufhören. Die meisten Amerikaner, die in Vietnam waren, waren sich dessen bewusst. Die nächste Frage war nur: Was machen wir jetzt? Und wie andere auch, die Zugang hatten auf höchster Ebene zum Verteidigungsministerium und zum weißen Haus, versuchte ich über einige Jahre hinweg von innen die Politik zu beeinflussen.


Ellsberg erarbeitete im Auftrag des Pentagon eine Studie: Die Geschichte des amerikanischen Engagements in Vietnam seit den 50er Jahren. 8000 Seiten Geheimdokumente, Beweise für einer falschen Politik voller Desinformation, politischer Sprengstoff. Er sprach mit Senatoren, mit Präsidentschaftskandidaten, mit Henry Kissinger - doch der Krieg ging weiter. Schließlich kopierte Ellsberg heimlich die Pentagon Papiere und übergab sie der New York Times - ein Akt von Ungehorsam, von Verrat. Das politische Washington war geschockt. Geheime Dokumente der Regierungen von Kennedy bis Nixon entlarvten die Arroganz der Macht, die Irrationalität politischer Entscheidungen in Zeiten des Krieges. "Die Vorstellung, dass Präsidenten lügen, und zwar viel mehr lügen als sich jemand von außen einfach vorstellen konnte, beeindruckte die Leute", so Ellsberg. "Man wusste natürlich irgendwie, dass Politiker manchmal lügen, dass sie betrügen und verführen und uns irreleiten, aber die Papiere bewiesen, wie sehr und wie unaufhörlich."


Wiederholt sich Geschichte?

Ellsberg wird angeklagt, die Veröffentlichung der Pentagon Papiere zunächst gestoppt. Doch der Oberste Gerichtshof erlaubt die Fortsetzung. Nixon will Ellsberg zum Schweigen bringen. Lange vor Watergate lässt er bei Ellsbergs Therapeuten einbrechen, um diskreditierendes Material zu finden, aber ohne Erfolg. Der zuständige Richter informiert Ellsberg, dass die Anklage gegen ihn eine Verurteilung für zehn Jahre umfasse. Ein billiger Preis, wie er schon damals fand, um zur Beendigung diese Krieges beizutragen. Heute ist er zuversichtlich: "Ich bin sicher, dass das Pentagon heute und der CIA, von allem was ich höre, und das weiße Haus, na ja da bin ich mir nicht sicher, aber das Außenministerium, dass diese Häuser voller Menschen sind, die genauso wie ich damals glauben, dass wir gerade in einen sehr großen, sehr gefährlichen, sehr brutalen Krieg eintreten, in dem viele Menschen ungerechter und unnotwendiger Weise sterben werden. Ein Krieg, der die Gefahren für dieses Land erhöht als Resultat der Politik des Präsidenten.


Kann sich Geschichte wiederholen? Wenn ja, dann gibt es Hoffnung - auf die Veröffentlichung der geheimen Irak-Papiere der Administration von George Bush, dem gewählten König, in naher Zukunft.

Secrets: A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers
von Daniel Ellsberg Viking Books, 2002
ISBN 0-670-03030-9 ca. EUR 32,03




--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.