Like a blitz

Kanadas Schulen unter Druck

Kanada bietet derzeit ein Lehrstück, wie Leistungstests die anerkannte Qualität eines guten Schulsystems beschädigen. Der Staat zieht ohne Not die Zügel an.

Von Anne Ratzki und Brigitte Schumann

TORONTO. In der internationalen Leistungsvergleichsstudie Pisa 2000 hat Kanada in der Gesamtwertung einen zweiten Platz in der Lesekompetenz der Fünfzehnjährigen erreicht. Mit diesem Erfolg konnte an die guten TIMSS-Ergebnisse in Mathematik und Naturwissenschaften angeknüpft werden.

Aber statt nach dieser Erfolgsserie das Bewährte zu stärken, stellt die kanadische Bildungspolitik in allen Provinzen die Schulen auf eine rigorose Output-Steuerung um. Dies gilt auch für die Schulen in Ontario, der größten und wirtschaftlich bedeutendsten Provinz in Kanada. Der Druck auf den Kindern der Elementary School wächst: Konzipiert als Schule für alle, auch der behinderten Kinder, umfasst sie die Klassen 1 bis 8 und als freiwilliges und kostenfreies Angebot den Kindergarten. Sie versteht sich traditionell als eine Schule der individuellen Förderung und nicht des harten Leistungswettbewerbs.

Die zentralen Diagnosetests in Klasse 3 und 6 schaffen einen enormen Leistungsdruck und laufen dem Anspruch an einen individualisierenden Unterricht völlig zuwider. Seit kurzem müssen die Schulen auf der Basis ihrer Ergebnisse Ziele zur Leistungsverbesserung formulieren (Target Setting). Im Rahmen von Action Plans sind diese dem School Board und den Eltern darzulegen. "Like a blitz", so eine Schulleiterin, sei diese Neuerung über die Schulen gekommen. Sie schaffe ein Spannungsfeld zwischen den pädagogischen Ansprüchen an einen inklusiven Unterricht, der allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden will, und den äußeren, bürokratischen Anforderungen an die Schulen.

Zusätzliche Mittel für eine entsprechende individuelle Förderung gibt es nicht, wenn die Diagnosetests ausgewertet sind. Der Handlungsspielraum für entsprechende Unterstützung von Kindern ist wegen drastischer Haushaltskürzungen in den zurückliegenden Jahren eingeschränkt worden; auch die allgemeinen Rahmenbedingungen für den Unterricht haben sich verschlechtert.

Im Jahr 2000 wurde ein Lese- und Rechtschreibtest in Ontario für die Klassen 10 eingeführt. Die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse des letztjährigen Lese-und Rechtschreibtests in Klasse 10 hat für öffentliche Kontroversen gesorgt. 75 Prozent der Teilnehmer haben den Test bestanden. Da im Jahr davor nur 68 Prozent bei diesem Test erfolgreich waren, sieht sich die Regierung mit ihrem Testsystem auf Erfolgskurs. Als Folge der Schul-Rankings mehren sich die Stimmen, welche die gesetzliche Garantie der freien Schulwahl für die Eltern verlangen.

Die Kritiker hingegen empfinden es skandalös, dass die Politik so einfach über die große Zahl der Gescheiterten hinwegsieht. Immerhin hängt vom Bestehen des Tests ab, ob man den Abschluss in der High School am Ende von Klasse 12 bestehen kann. Außerdem sind von dem Scheitern im Wesentlichen sozial benachteiligte und behinderte Schüler betroffen.

Die Regierung scheint die von ihr herbeigeführte Notlage der Gescheiterten für eine "Modernisierung" der integrativen High School nutzen zu wollen.. Sie liebäugelt damit, einen eigenen Abschluss auf der Basis eigener Curricula für die Leistungsschwächeren anzubieten. Bislang gilt noch die bewährte Regelung eines einheitlichen Abschlusses für alle am Ende der High School mit den Zusatzberechtigungen für Universität und College bei entsprechenden Leistungsnachweisen. Änderte sich dies, würden sich entlang sozialer Herkünfte die Bildungswege der Schüler am Anfang der High School in ungleichwertige Angebote trennen. Diese Abkehr von der Integrationsstrategie wäre für Kanada als typisches Einwanderungsland ein tiefer Einschnitt.

Es scheint, als beschädige ein Pisa-Spitzenland erfolgreiche Schulstrukturen. Ein dezentrales, förderndes System mit hohen Leistungen und wirksamer Breitenförderung wird in ein zentralistisch gesteuertes Marktmodell mit vielen Verlierern umgewandelt.



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