Frankfurter Rundschau 18 12 02
Ziemlich viel auf einmal auf dem Prüfstand
Die Gewerkschaft GEW dringt auf Qualität in der Bildung - und auf intelligente Standards
Wie gehaltvoll werden die nationalen Bildungsstandards sein, auf die sich die Kultusministerkonferenz (KMK) verständigen will? Sind es Kriterien, um die Leistungen der Schulen fair zu prüfen und die Augen für Verbesserungen zu öffnen? Oder um "falsch platzierte" Schüler perfekter in Schulformen zu sortieren? Der Kongress "Qualität in der Bildung" suchte nach Antworten - auch für Hochschulen.
Von Karl-Heinz Heinemann und Jörg Feuck
BERLIN. Durch einen riesigen aufgeblasenen Rettungsring führte der Weg zum Kongress der Gewerkschaft GEW in die Berlin-Brandenburgische Akademie am Berliner Gendarmenmarkt. Plakate der Kampagne "Rettet die Bildung" zierten auch die Einladung zum "Qualitäts"-Kongress der Gewerkschaft. Weitere Helfer wollte die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange für einen "zweiten Anlauf in der Bildungsreform" versammeln.
Dass Bundespräsident Johannes Rau, langjähriges GEW-Mitglied, Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, DGB-Chef Michael Sommer, Kultusminister und Verbandsvertreter kamen, unterstrich den Anspruch der GEW, im Hauptfach Bildungsreform wieder die Meinungsführerschaft zu erringen. "Wir brauchen eine Vision, wo das deutsche Bildungswesen in zehn Jahren stehen soll und Perspektiven, wie wir dorthin gelangen", forderte Stange. Und sie wurde gleich handfest: Jedes Kind soll das Recht auf einen Platz in einer kostenfreien ganztägigen Kindertagesstätte ab dem ersten Lebensjahr haben. Akademisch gebildete Erzieherinnen sollen den "Schatz der frühen Kindheit" im Zusammenspiel mit den Eltern heben. Alle Kinder sollten zehn Jahre lang eine gemeinsame, ganztägig organisierte Schule besuchen. Niemand werde zurückgestellt oder in eine "niedrigere" Schulform abgeschoben. Die Bildungseinrichtungen arbeiteten eigenverantwortlich, müssten sich an nationalen Bildungszielen messen lassen. Ja zu interner und externer Überprüfung, Ja zum regelmäßigen nationalen Bildungsbericht. Stange beschwor die Bildungsphilosophie der Finnen: Alle werden gebraucht, niemand wird beschämt, keiner wird zurückgelassen.
Stanges schulpolitische Vision löste Raunen unter den Verbandsfunktionären im Saal aus. "Qualität und Chancengleichheit sind zwei Seiten einer Medaille", mit dieser Botschaft will die GEW-Vorsitzende neue Positionen besetzen - und sei es gegen Widerstände in der eigenen Organisation. Im Jahr eins nach Pisa hat sich auch in der GEW etwas bewegt. Vor vier Jahren noch fasste man Leistungsvergleiche mit spitzen Fingern an, manche riefen zum Boykott auf, wie der Bielefelder Bildungsforscher und Laborschulleiter Klaus-Jürgen Tillmann in Erinnerung rief.
Trotzdem nimmt auch die GEW einige Pisa-Ergebnisse nicht richtig zur Kenntnis. Tillmann, Mitglied des Pisa-Konsortiums, wies die Bildungsgewerkschafter auf blinde Flecken in ihrer Diskussion hin: zum Beispiel, dass die Schulen der Länder mit relativ vielen Gesamtschulen eine ebenso scharfe soziale Auslese betrieben wie diejenigen Schulen in den Ländern, die am gegliederten System festhalten. Tillmann verlangte, "endlich einige heilige Kühe zu schlachten": Die Vorschule für Vier- bis Fünfjährige und gleiche Bezahlung von Erzieherinnen und Grundschullehrern, "bayerische Verhältnisse" in allen Grundschulen - so viel Unterrichtsstunden wie im Süden der Republik. Und schließlich Präsenzpflicht für Lehrer, um "Zeit für Kooperation" zu gewinnen. "Das hektische Rumgerenne im Lehrerzimmer während der Pausen und das Rausrennen nach Schulschluss ist tödlich für jede Qualitätsentwicklung", stellte der Wissenschaftler klar.
Ludwig Huber, Hochschuldidaktiker und ehemaliger Leiter des Bielefelder Oberstufenkollegs, war der Erste, der das Spannungsfeld zwischen "Heterogenität aushalten" und "Bildung standardisieren" beschrieb. "Individuelle Förderung fordern jetzt alle." Aber: "Am Ende können Kinder Unterschiedliches, das man nicht mit dem Lineal der einheitlichen zentralen Standards messen kann." Feststellen lasse sich letztlich nur, ob Schule ein solides Fundament an Kenntnissen und Fähigkeiten gelegt habe - etwas mehr Bescheidenheit also für die empirische Bildungsforschung sei angezeigt.
Da war das Problem plötzlich im Raum: Werden die KMK-Standards, wie viele Experten auf dem Podium und im Saal mutmaßten, die Kurzversion curricularer Lehrpläne sein, klassische Stoffkataloge, ein säuberlich nach Schulformen und Abschluss-Profilen getrennter Wissens-Kanon? Wer wird eigentlich getestet - Schulen oder Schüler? Der Dortmunder Schulforscher Hans-Günter Rolff beschrieb den aktuellen "Kampf zwischen zwei Linien": Mehr diagnostische und pädagogische Kompetenz gegen "perfektionierte Selektivität" beim Schulübergang etwa nach Klasse 4. Da geriet Eckard Klieme vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und von Bildungsministerin Bulmahn mit einer Expertise zum Thema betraut, doch arg unter Druck: Ob er sich "politisch nicht missbraucht" fühle? Klieme gab tapfer zurück, es sei wohl zu dürftig, nur Minimal- und Leistungsstandards festzuklopfen. Nein, man müsse sich auch der Anstrengung unterziehen, Schultypen übergreifende Kompetenzmodelle zu entwickeln und auf Unterricht, Klassenführung, didaktische Stile und selbstständiges Lernen zu achten. "Wichtig ist", so Klieme, "dass die Standards ausdrücken, dass alle Beteiligten Verantwortung für Lernergebnisse übernehmen und die Bildungsziele einlösen." Was er freilich in den Bundesländern noch nicht
sehe: "Wie wird das bei den Lehrkräften verankert und innovativ in der Lern-Lehrpraxis umgesetzt?"
Wasser auf die Mühlen von Hans-Günter Rolff: Er fürchtet, dass Standards und Tests "schwache Schulen noch schwächer" machen, weil ihnen Förderung versagt bleibe. Und überhaupt - die Zentralisierung: "Das neue Paradigma der Selbststeuerung der Einzelschule wird torpediert, bevor sie beginnt", resümierte Rolff. Sein Rat: Politik und Behörden sollten "fünf Jahre mal gar nichts machen außer die Unterstützungssysteme auszubauen. Das kann man dann in vier, fünf Jahren evaluieren."
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