Warum nur Französisch? Teil 1
Lokaltermin Bildungs"wesen": Fünfte Klasse Gymnasium. Endlich Englisch! Alle sind gespannt. Ein Mitschüler kommt gerade aus Irland zurück. Dort ist er aufgewachsen, die Sprache kann er schon gut. Er ist der "Star". Dann die
Ernüchterung: Die Lehrerin verbietet ihm das Reden. Sein "schrecklicher Akzent" bedeute Ansteckungsgefahr. Zwei Jahre später. Französisch geht los. Nach der ersten Woche sind die Eltern neugierig. Originalton Sohn: "Gesprochen haben wir noch nicht. Die Lehrerin redet Deutsch. Weil wir ja noch nichts können!" Fortbildungstagung eines Fremdsprachenverbandes. Ich mache den Vorschlag, Gruppen zu bilden und die Diskussion in der jeweiligen Berufssprache zu führen. Knapp die Hälfte der Anwesenden verlässt den Raum. Zuvor habe ich 200 FH-Studierende befragt. Betriebswirte, Sozialpädagogen, Ingenieure in spe. Schulerfahrungen? Ein einziges Lamento: kaum Gelegenheit, die Fremdsprache zu benutzen; Dominanz des Schreibens; buchstäbliches Nichts-tun. Dokumente der Mutlosigkeit.
Verordnete Langeweile, die falschen Schwerpunkte, fehlende Ökonomie, Gleichgültigkeit gegenüber dem Mitteilungsdrang der Schüler - für Englisch mögen solch plumpe Entgleisungen hingehen. Die Sprache der Globalisierung ist ohnehin allgegenwärtig, in Pop-Musik, Medien, Werbung, Freizeitbranche, Computertechnik. Die "Kids" wachsen in sie hinein. Eines Tages handhaben sie sie als ihr zweites Umgangsmedium, wie heute schon junge Holländer, Dänen, Schweden. Für Französisch freilich wirkt das geschilderte Gebaren fatal. Erhärtet es doch das Vorurteil, diese Sprache sei "trocken", schwer und überhaupt ganz anders. Die Folgen demonstriert die Statistik. Eine satte Mehrheit der Gymnasiasten wählt - bundesweit!- Französisch bei erster Gelegenheit ab. Die anderen Anbieter - von Berlitz bis VHS - melden seit Jahren dramatisch rückläufige Kurszahlen.
Ein geringer Trost: Deutsch in Frankreich ergeht es nicht besser. Jahrzehnte als Reservat für besonders Begabte und Spielwiese für formal-geistige Höhenflüge missbraucht, schlägt ihm nun massenhaft Desinteresse ins Gesicht. Schon tun sich, immerhin, Lehrerverbände beider Länder zusammen. Goethe-Institut und Institut Francais haben PR-Aktionen gestartet für beide Sprachen.
Das Wie entscheidet
Alles ist relativ. Verglichen mit Japanisch oder Arabisch sind unsere "Schulsprachen" kinderleicht. Fühle ich mich hingezogen, erkenne ich den Nutzen, so geht alles wie von selbst. Ich opfere Zeit und Energie, organisiere mein Lernen. Es macht ja Spaß. Die großen strukturellen Unterschiede? Sie ebnen sich unterm Strich ein. Englisch mag rasche Erfolgserlebnisse bieten. Die grammatischen Grundmuster wirken hier oft wie verkürztes, schlankeres Deutsch. Aha-Effekte beim Grundwortschatz tun das
Ihre: Hi! Come on! Let me see! Der Eintritt in Französisch gestaltet sich kniffliger. Eine Vielzahl von Formen greift ineinander. Mit Regeln, präzise wie ein Uhrwerk. Und jede Menge Ausnahmen.
Faszinierend, aber fremd, das Lautsystem. Musikalisch-polyphon strömt es daher. Andererseits: Die "Probleme" der Schrift halten sich hier und dort die Waage. Beim Wortschatz, auf fortgeschrittener Ebene, und bei der Idiomatik (im rechten Moment den rechten Ausdruck finden...) dreht sich der Spieß vollends um. Untersuchungen belegen: Je höher hinaus es geht, umso schwieriger wird Englisch, umso einfacher fällt Französisch.
Auf das Wie kommt es an. An der Europäischen Schule in Brüssel leben und lernen Abkömmlinge aus mindestens 30 Ländern. Vom Kindergarten bis zum Abitur. Ein internationales Bildungslabor, "draußen" noch kaum beachtet. Dabei tragen die Bundesländer es mit. Ich hatte einem vorwiegend frankophonen Publikum Deutsch zu vermitteln. Schnell merkte ich, dass das Arsenal der Formen meiner Muttersprache, geballt und sinnentleert dargeboten, die Lerner abschreckt: ein Dutzend Pluralformen, vier durchgestylte Fälle in drei Geschlechtern, gekreuzt mit dem Heer der "Begleiter" - Adjektiven, Pronomen, Präpositionen. Zu schweigen von den Konjugationen...
Für den Gebrauch lässt sich das kaum erlernen. Also: die Heckenschere angesetzt! Zurechtgestutzt auf jugendliches Mitteilungsniveau, das Minimum an Situationen, den Kern an Ausdrucksweisen. Mit interessanten Ton- und Videoaufnahmen serviert. Und flugs verlor das Gebäude seine Wucht, wurde luftig und begehbar. Auf der Gegenseite zeitigt die Praxis nicht minder Erfolg. Generationen deutschsprachiger Kinder haben dort spielend Französisch gelernt. Ihr Trumpf: die unmittelbare Anwendung. Die Vorschule bietet Singen, Malen, Tanzen mit der "Madame", welche nicht unbedingt Deutsch versteht. Auf dem Pausenhof wirbeln die Sprachen dann durcheinander. Manche verständigen sich mit Händen und Füßen. Keiner fragt, warum das so ist. Und nach dem Schultag warten Thierry und Marie-Claire, die Nachbarskinder. Am Sportplatz, im Supermarkt, im Comicladen: überall Französisch.
Aus der Ferne bleibt uns nichts übrig, als das Lernen auf das zwischenmenschlich Mögliche hin zu organisieren. Der private Sektor führt es vor. Wenn Manager sich auslandstauglich machen, ohne festes Zeitschema, ohne starre Sitzordnung, ohne fixe Progression. Perfekt - als ließe sich eine Fremdsprache je "beherrschen" - braucht keiner zu sein. Das Interesse bestimmt den Inhalt. Jede Äußerung ist wertvoll. Selbstvertrauen schafft Mut. Erfolg hat, wer sich auf das Geben und Nehmen der Worte einlässt.
"Fehler" behalten ihr Recht. Sie sind Wegweiser der Erfahrung. Also: Drängt niemandem ein Arbeitstempo auf. Beobachtet die Kleinkinder, wie sie, Lösungen erprobend, lustvoll Besitz ergreifen von ihrer ersten Sprache. Sorgt dafür, dass sie später auch das Abenteuer der Kommunikation in einem zweiten (und dritten...) Medium entdecken, nach ihrem Maß. Öffnet die Klassenräume. Blickt hinaus über den Tellerrand der Institutionen. Leitet Begegnungen ein für alle. Brieffreundschaften, Schüler- wie Lehreraustausch, muttersprachliche Studenten als Hilfskräfte, Langzeit-Projekte für Partnerklassen, internationale Lehrpläne für die Sprachen Europas. Hinterfragt die "bewährten" Muster. Reformiert unsere öffentlichen "Anstalten"! Ein Wunschtraum? Nicht so sehr. Machen wir nur Politikern, Bürokraten und auch den Medien Beine!
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