Frankfurter Rundschau 06 01 2003

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Dorothea S. Baltenstein lebt (Teil 1)

Vier Berliner Gymnasiastinnen und ihr Lehrer haben unter Pseudonym einen Roman geschrieben, der zu einem literarischen Erfolg geworden ist

Von Karl-Heinz Baum

Das Geheimnis ist gelüftet, die Geschichte des Schauerromans muss nicht umgeschrieben werden, wie im Herbst zu Frankfurts Buchmesse der Deutschlandfunk befürchtet hat. Ein halbes Jahr hatte die Literaturwelt über die Autorin des Buches "Vier Tage währt die Nacht" gerätselt. Nun ist
gewiss: Dorothea S. Baltenstein ist nicht 1890 in Schlesien geboren und auch nicht 1920 bei Kattowitz an einer Überdosis Tabletten gestorben, wie es im Klappentext des Buches heißt. Die Dame hat nie existiert, sie ist ein Fantasieprodukt.

Hinter Dorothea S. Baltenstein verbirgt sich der Deutschkurs 1995 der 10. Klasse mit Fachlehrer Michael Schmid am Gabriele-von-Bülow-Gymnasium in Berlin-Tegel. Damals bitten 16 Schülerinnen - Schüler waren nicht dabei - ihren Lehrer, doch mal einen richtigen Horrorkrimi zu schreiben mit Mädchenmorden in der Turnhalle und dem Hausmeister als Täter. Doch Schmid fürchtet die Rache der Eltern, polt die Mädchen auf die Zeit der Romantik um, auf den Schauerroman als literarische Urform des Krimis. Bei Kerzenlicht lässt er eine Arbeit über Edgar Allen Poe schreiben. Als das Schuljahr um ist, wissen alle viel über Romantik und Schauerromane.

Konzept der Handlung und auftretende Personen eines eigenen Romans stehen
fest: Es soll ein Dichterkongress sein, doch nicht wie bei Englands Romantiker Lord Byron in der gewitterumtosten Villa Deodati am Genfer See, sondern auf einer richtigen Burg winters im schottischen Hochland. Die Burg selbst soll eine Rolle spielen. Schmid schlägt 1817 als Jahr der Handlung vor, als Mary Shelley "Frankenstein" herausbrachte. Eins der Grimmschen Märchen soll durch die Handlung führen, ein altertümlicher, behäbiger Sprachstil Romantik repräsentieren. Wie in jedem Schauerroman oder guten Krimi sollen die handelnden Personen keinen Kontakt zur Außenwelt haben; so weiß der Leser, dass der Mörder kein Außenstehender ist und mögliche Opfer nicht einfach weglaufen können.

Teile der ersten Kapitel, Versatzstücke, sind zu Papier gebracht, in Schönschrift auf kariertem DIN-A-Papier. Doch dabei will Schmid es nicht bewenden lassen. An der Schule ist er längst für ungewöhnliche Ideen bekannt, hat gerade einen makabren Spielfilm über Sinn und Unsinn der Fernsehshows ("Questum") gedreht. In den Sommerferien schreibt er erste Kapitel auf der Grundlage der Schülergedanken. Ihn habe die Sucht gepackt, sagt er heute: "Ich wollte wissen, ob es überhaupt geht." Er lobt seine
Mitarbeiterinnen: "Ohne ihre Ideen hätte ich keine Zeile geschrieben." Er bittet die Mädchen aus dem Kurs, freiwillig am Roman weiterzuarbeiten. Erst machen sechs der 16 mit; am Ende bleiben vier dabei: Tanja Kasten, Gregoria Paloma Suarez, Sandra Zemke und Nadja Züfle. Immer donnerstags treffen sie sich bei Pizza und Cola in der Schulbibliothek, um die Geschichte von Schloss Boroughmore und seinem Mörder zu Ende zu bringen und um gleich Ideen, die auf historischen Begebenheiten beruhen, auf Richtigkeit zu überprüfen. 1999 haben sie es geschafft.

Geheim ist daran nichts, und ein "Schelmenstück", wie zuweilen Kritiker meinen, sollte es schon gar nicht sein. In Eigenarbeit wird der Text gedruckt, Mitautorin Nadja steht selbst vierzig Stunden an der
Druckmaschine: für 150 Exemplare mit 760 Seiten Roman und 150 Seiten Anhang, rot eingebunden unterm Titel "Pegasus" nach dem geflügelten Pferd der griechischen Mythologie. "Pegasus" heißt auch das letzte Kapitel im Baltenstein-Buch. Unter Lehrern, Schülern und Eltern finden die Exemplare reißenden Absatz, sind an einem Tag verkauft.

Im Berliner Tagesspiegel stellt Uwe-Johnson-Experte Peter Nöldechen den Roman vor: "Im Fall Boroughmore führt die Spur nach Tegel." Er ist traurig, dass er nicht an dieser Schule Schüler war. Immer wieder fragen Leute nach dem Buch. Da drängen die Autorinnen den Mitautor Lehrer, einen Verlag zu suchen. Schmid hält das für aussichtslos und scheint Recht zu haben. 60 Verlage schreiben - meist freundlich - zurück; mit dem Lob kann Schmid die Schule tapezieren, aber die Antworten sind durchweg Absagen.

Nach fast einem Jahr kommt ein Brief aus Frankfurts Kaiserstraße vom Eichborn-Verlag (Eigenwerbung: "Das Leben ist zu kurz für langweilige Bücher"). Man finde den Text "hinreißend", wolle ihn drucken, stelle aber zwei Bedingungen: Der Text müsse um hundert Seiten gekürzt werden. Und: Das Schulprojekt dürfe nicht erkennbar sein. Da habe man schlechte Erfahrungen, das werde nicht ernst genommen.


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