Teil 2
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Schmid hat Bauchschmerzen: Geht das gut mit einem fingierten Autor? Kennen nicht zu viele Leute den Text über Boroughmore Castle - 150 Käufer der Schulausgabe und ihre Freunde, Leser des Tagesspiegel-Artikels, Lektoren der Verlage? Werden sie den Mund halten, wenn das Buch unter anderem Titel herauskommt? Schmid denkt sich schließlich den Namen Baltenstein aus, nur ein Ortsteil einer kleinen Gemeinde in Bayern heißt so. Er erfindet einen Lebenslauf, der ein Teil der Geschichte seiner Familie ist, die aus Oberschlesien stammt. Er lässt das Manuskript der so früh verstorbenen Dorothea über ihre Schwester nach Jena gelangen, ins Haus, das seiner Tante gehörte, und auf dessen Dachboden er die handgeschriebenen Blätter entdeckt haben will.
Im Verlag wird im Frühjahr 2002 noch einmal überlegt, ob man nicht doch die Wahrheit über die Verfasser sagen soll. Die Pisa-Studie ist gerade in aller Munde, die deutschen Schülern ein mieses Zeugnis ausstellt. Ist ein druckfertiger Roman vierer Schülerinnen und ihres Lehrers da nicht ein Gegenbeweis? Doch der Verlag bleibt bei der geplanten Legende. Als Anfang Juli 2002 der Schauerroman erscheint, denkt niemand mehr an Schülerinnen der Berliner Schule; Wissende schweigen. Das Buch wird ein Renner. "Das beste seit Umberto Ecos ,Der Name der Rose' " wirbt eine Buchhandlung in Rheinland-Pfalz. Die FAZ nennt in einer Kurzrezension den Text "fesselnd und so hinreißend spannend, dass man der Autorin ein längeres Leben gewünscht hätte". Nachdem Facts, das Schweizer Politmagazin, den Roman rezensiert hat, erreicht "Vier Tage währt die Nacht" in der Schweiz zeitweilig die Bestsellerliste. Im Internet ist es Geheimtipp für "Urlaub bei Sommerhitze" oder "lange Winternächte". Inzwischen bietet gar ein New Yorker Versandhandel für deutsche Bücher die Baltenstein an. Schmid hat in 60 Besprechungen noch keinen Verriss gefunden.
Doch Rezensenten fragen oft nach der unbekannten Autorin. Dabei kann man am Text selbst merken, dass er nicht vor neunzig Jahren entstanden ist. Hätte sich zum Ende des prüden Kaiserreichs ein Literat getraut, das Liebesverhältnis zwischen Erzähler Jonathan Lloyd und der schönen Nightingale so offenherzig zu beschreiben? Oder hätte um 1918 jemand ein so striktes Bekenntnis gegen den Antisemitismus zu Papier gebracht? Lange lassen sich die Schülerinnen über den von Goethe und seinen Zeitgenossen gefeierten gälischen Dichter Ossian und dessen Schriften aus -- bekanntlich eine Fälschung. Überhaupt: Dem Buch steht ein Spruch von Horaz voran: "Vanae fingentur species" übersetzt: "Eitle Bilder werden gebildet werden". Doch Latein gehört heutzutage nicht unbedingt zum Wissen der Kritiker. Aber auch ohne Lateinkenntnis hätte man drauf kommen können, dass "fingentur" etwas mit "fingieren" zu tun hat.
Die Schülerinnen, die inzwischen Studentinnen sind, und ihr Lehrer am Bülow-Gymnasium haben einen literarischen Coup gelandet. Nach einem halben Jahr sind 16 500 Bücher verkauft. Rowohlt will den 532-Seiten-Schmöker als Taschenbuch verlegen. Das Segeln unter falscher Flagge verübelt anscheinend niemand. Als der stern das Autoren-Geheimnis zu Weihnachten lüftet, steigt die Nachfrage. Eher kommt zuweilen Schadenfreude auf, dass große Verlage hochnäsig beim Stichwort "16-, 17-jährige Schülerinnen" den Text beiseite legten und sich das gute Geschäft entgehen ließen.
Übrigens kann der Leser seinen kriminalistischen Spürsinn nicht nur bei der Suche nach dem Mörder beweisen, sondern auch vier historische Fehler suchen, die das Autorengespann in den Text eingebaut haben will. Glauben wir einfach, dass sie ihm nicht beim Bau der Geschichte unterlaufen sind.
Märchen der Brüder Grimm beginnen mit "Es war einmal...". Wie das Erfolgsmärchen vom Lehrer und seinen Schülerinnen endet, ist offen. Schmid will allen Gewinn - nach Steuern - in neue Schulprojekte stecken.
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