Rheinischer Merkur 09 01 03
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FRANKREICH / Der neue Erziehungsminister Luc Ferry hält nichts von pädagogischen Luftschlössern
Ein Philosoph räumt auf (1)
Lesen, Schreiben und mehr Allgemeinbildung: Die „Grande Nation“ setzt solide schulische Basisarbeit wieder an die erste Stelle.
Autor: MEDARD RITZENHOFEN, Paris
Soll die Elitehochschule ENA abgeschafft werden? Wie bekommt man die Jugendgewalt in den Griff? Wo kann beim Budget gekürzt werden, ohne dass Lehrer, Schüler und Eltern auf die Straße gehen? Solche Fragen treiben französische Erziehungsminister um. Doch Luc Ferry, der Neue im Amt, hört dabei nicht auf, sondern greift nach dem Ganzen: „Was ist ein gelungenes Leben?“, fragt er. Gewiss, in seinem im Herbst des vergangenen Jahres erschienenen gleichnamigen Buch („Qu’est-ce qu’une vie réussie?“) liefert er keine fertigen Antworten, aber er vermittelt von der Weisheit der Antike bis zur Sinnkrise der Moderne viel Bedenkenswertes. Denn Luc Ferry ist Philosoph, und einer der arriviertesten Frankreichs dazu. Er hat sich als Begründer eines Renouveau der Rechtsphilosophie und profunder Kant- und Nietzsche-Kenner einen Namen gemacht und ist als Verteidiger einer kritisch abwägenden Vernunft aus dem Geist der Aufklärung keinem Meinungsstreit aus dem Weg gegangen. Erst rechnete er mit dem Antihumanismus der 68er Generation ab, dann legte er sich mit den intellektuellen Mandarinen Foucault, Bourdieu und Deleuze an, um schließlich die Auswüchse der ökologischen Ideologie zurückzustutzen.
Liebling der Medien
Wer permanent gegen den Mainstream schwimmt, kommt selbst in Mode. Luc Ferry, der gescheite, gut aussehende Querdenker, ist längst ein Liebling der Medien und macht als eleganter Stratege in den Salons eine ebenso gute Figur wie als eloquenter Interpret des Seins.
Wie aber kommt ein solcher Feingeist an die Spitze des Erziehungsministeriums, der größten Behörde Frankreichs, die mit einem Etat von 61,5 Milliarden Euro beim Staatshaushalt am schwersten ins Gewicht fällt? Wenn die turbulenten letzten Präsidentschaftswahlen, bei denen der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen in die zweite Runde vorstieß, eines gelehrt haben, dann dies: Das Volk hat von der technokratischen Politikerkaste mit ihrem gestanzten Vokabular die Nase voll. Auf der Suche nach markanten Repräsentanten der Zivilgesellschaft für die neue Regierung fiel der Blick des wiedergewählten Jacques Chirac zwangsläufig auf den medialen Intellektuellen, der sich aufs Parlieren mit Tiefgang so gut versteht wie auf das Ausloten von Problemen.
Luc Ferry, inzwischen 51 Jahre alt, begleitete bereits die Reformanstrengungen seiner drei Amtsvorgänger in der Rue Grenelle (François Bayrou, Claude Allègre, Jack Lang) als Vorsitzender des nationalen Rats für die Lehrpläne. Nicht zuletzt empfahl er sich durch seinen Nachnamen: Ferry. Immerhin gilt Jules Ferry (1832-1893) als antiklerikaler Pionier des modernen Unterrichts; er führte die allgemeine unentgeltliche Schulpflicht nach laizistischen Grundsätzen ein. Gewisse Berührungspunkte der Namensvettern ergeben sich insofern, als dass Jules F. „die Menschheit ohne Gott und König“ (l’humanité sans Dieu et sans roi) zu organisieren trachtete, während Luc F. in einem seiner Bücher „Von der Göttlichkeit des Menschen“ („L’Homme-Dieu“, Zsolnay Verlag, 1997) spricht.
Ein historischer Name kann ein gutes Omen sein, ist aber vor allem Verpflichtung. Dass es mit der Education nationale nicht zum Besten steht, gehört zum Allgemeinwissen. „L’école va mal“ ist ein geflügeltes Wort in den Bildungsdebatten. Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache: Zwischen 21 und 35 Prozent der französischen Schüler können beim Eintritt in das Collège (Sekundarstufe I), also nach fünf Grundschuljahren, nicht korrekt lesen. Die so ehrgeizig propagierten 80 Prozent eines Jahrgangs, die das Abitur machen sollten, sind bei 61 Prozent hängen geblieben. Rund 150 000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschlusszeugnis und Qualifikation. Hinzu kommt die spezifisch französische Schere zwischen einer schmalen elitären Schicht, die den traditionellen Parcours der Prestigeschulen durchläuft, und der wachsenden Zahl von Lehranstalten, die an den Rändern der Städte zwischen ethnischer Konzentration und sozialer Verwahrlosung nicht nur von den schulischen, sondern auch von den zivilisatorischen Standards immer weiter wegdriften.
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