ZEIT 03/2003
http://www.zeit.de/2003/03/B-Sexualaufkl_8arung
„Schmutzige Gedanken“
Viele Jugendliche aus Migrantenfamilien sind mit dem liberalen Aufklärungsunterricht an deutschen Schulen überfordert. Sexualpädagogen setzen auf einen neuen interkulturellen Ansatz
Von Beate Herkendell
Dienstag, siebte Stunde: Aufklärungsunterricht an der Diesterweg-Oberschule in Berlin-Wedding. Vor dem 17-jährigen Ebu* liegt auf dem Pult ein Holzpenis, daneben steht ein Karton mit Kondomen. Ein Overheadprojektor hat die Aufgabe in großen Lettern an die Wand geworfen: „Aufsetzen eines Kondoms auf die Eichel“. Doch Ebus Blick klebt an der Tischplatte. „Ich will meine Gedanken nicht beschmutzen lassen“, sagt er und reibt sich mit den Händen über das Gesicht. „Nur wegen der Noten muss ich mitarbeiten. Sonst geht mich das hier nichts an.“
Viele Jugendliche aus Migranten- und Aussiedlerfamilien kennen Ebus Problem. Während zu Hause aus Glaubensgründen, Scham oder Unwissenheit Sex kein Thema ist, fühlen sie sich von der Offenheit in der Schule bedrängt und überfordert. Ihre deutschen Lehrer, stolz, in einer sexuell befreiten Gesellschaft zu leben, wollen, dass auch die Schüler in den Genuss der Errungenschaften der sexuellen Revolution kommen. Ihre Eltern dagegen, voller Angst, ihre Kinder an genau diese von ihnen als verdorben empfundene Kultur zu verlieren, setzen strenge Regeln oder Tabus dagegen.
Eine Studie der Berliner Diplompsychologin Maria von Salisch über die sexuellen Probleme türkischer Jungen ergab, dass 64 Prozent der Befragten „unter keinen Umständen“ mit ihren Eltern über sexualitätsrelevante Themen sprechen würden. „Man will schließlich nicht in die Privatsphäre der Eltern eingreifen“, sagt Ebus 16-jähriger Freund Ercan. Und die 16-jährige Maria, deren Eltern aus Kroatien kommen, meint: „Auch wenn ich noch so dringend was von meiner Mutter wissen will, mein Gefühl stoppt mich.“
Im Unterricht dagegen stellen die Jugendlichen ihre Ohren auf Durchzug oder beschränken sich auf das pure Auswendiglernen des Stoffs. „Manchmal lüge ich auch und behaupte, dass ich alles schon weiß“, sagt Ercan. Mitunter jedoch verstehen die Schüler nicht einmal, wovon der Biologielehrer überhaupt redet. „Als das Wort Tampon vorkam, musste ich erst mal meine Nachbarin fragen“, erinnert sich die 18-jährige Mihaela, die in der zweiten Klasse aus Rumänien nach Deutschland zog, „das war einfach nur peinlich.“
Sexistische Sprüche
Zurück bleiben bei vielen ohnehin schon pubertätsgebeutelten Jugendlichen Angst und ein schlechtes Gewissen. „Du denkst, deine Mutter sagt Wahres und wird wissen, was gut für dich ist. Aber das denkst du von deinem Lehrer ja auch. Mich hat das einfach nur traurig gemacht“, beschreibt die 16-jährige Kroatin Maria den Konflikt. Andere Jugendliche verlegen sich auf sexistische Sprücheklopferei oder richten ihre Wut nach außen. „Die werden dann oft aggressiv gegenüber deutschen Mädchen oder Homosexuellen“, beobachtet der Sexualpädagoge Joachim Braun von Pro Familia in Berlin.
Bislang haben nur wenige Lehrer und Schulpolitiker die gesellschaftspolitische Bedeutung der Aufklärungskunde erkannt. „Der Sexualkundeunterricht nimmt eine Schlüsselstellung bei der Integration ein, weil er wesentliche Unterschiede zwischen den Kulturen, wie das Verhältnis der Geschlechter, thematisiert“, sagt Yasemin Karakasoglu vom Institut für Migrationsforschung der Universität Essen. „Wer das ignoriert, verschärft die Konflikte.“
Sexualpädagogen haben deshalb eine so genannte interkulturelle Sexualkunde erarbeitet. Sie nimmt Abschied von der Vorstellung, dass sich die Qualität eines guten Aufklärungsunterrichts hauptsächlich am Grad seiner sexuellen Aufgeschlossenheit bemisst, und setzt stattdessen auf kulturelle Unterschiede. Dabei sollen Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet werden. Um ihnen den Zugang zu ihren Gefühlen zu erleichtern, können Teile des Unterrichts in der Muttersprache der Schüler gehalten werden. Außerdem wollen die Reformer die Unterrichtseinheit „Verhütung“ durch „Familienplanung“ ersetzen und Formulierungen wie „Freund oder späterer Ehemann“ etablieren.
Die deutschen Sexualkunde-Unterlagen nehmen auf die Migrantenschüler bislang keine Rücksicht. Viele Jugendliche lassen deshalb Unterrichtsbücher und Anschauungsmaterial lieber in der Schule oder deponieren es in den Biologie-Ordnern von Freunden. Häufig entpuppt sich ausgerechnet das als ungeeignet, was von Lehrern und Schulbehörden als „zielgruppen-adäquat“ und „pädagogisch wertvoll“ eingestuft wird. So zeigt etwa ein viel gepriesener, aus Dänemark stammender Aufklärungsfilm, Sex – eine Gebrauchsanweisung, wie sich ein Mädchen mit zwei Fingern selbst entjungfern kann, um das Einführen von Tampons zu erleichtern. Das sei für ein muslimisches Mädchen, für das Jungfräulichkeit ein großer Wert sei, eine „unglaubliche körperliche Attacke “, kritisiert Lucyna Wronska vom Institut für Sexualpädagogik in Dortmund: „Wenn man den Jugendlichen ein sexuell selbstbestimmtes Leben ermöglichen will, muss man sie in Übereinstimmung mit den Traditionen ihrer Herkunftskultur aufklären und nicht gegen die Kultur.“
Viele deutsche Lehrer dürfte eine solche spezielle Sexualkunde für Migranten überfordern. Dass sie dennoch funktioniert, zeigen die Erfahrungen der Pro-Familia-Beratungsstelle in Berlin. Hier gehören die Themen Jungfernhäutchen und Aussteuer ebenso zur Beratung wie die Frage, ob ein richtiger Mann beim Sex auch mal unten liegen darf. Wertungsraster wie „fortschrittlich – rückschrittlich“ haben die Mitarbeiter des Jugendteams abgeschafft. „Wenn die Jugendlichen jungfräulich in die Ehe gehen wollen, ist das für uns völlig in Ordnung“, sagt Sexualpädagoge Joachim Braun. Genauso wie es in Ordnung ist, den Mädchen traditionelle weibliche Kniffe mit auf den Weg zu geben, für den Fall, dass ihr Jungfernhäutchen bereits vor der Eheschließung gerissen sein sollte.
Vorgeschmack aufs Paradies
„Die interkulturelle Sexualpädagogik will den Jugendlichen helfen und sie nicht bevormunden“, sagt Pro-Familia-Mitarbeiterin Nursen Aktas, die selbst in der Türkei aufgewachsen ist. Auf ihren Rat besonders angewiesen sind muslimische Mädchen, die vor ihrer Hochzeit eine Ausbildung machen oder studieren wollen und nicht wissen, wohin sie bis dahin mit ihren sexuellen Bedürfnissen sollen. Während bei der herkömmlichen Sexualaufklärung schnell das Jungfräulichkeitsgebot zur Debatte steht und damit die Herkunftskultur der Mädchen, schlägt Nursen Aktas vor, „bis zur Hochzeit Petting und Oralverkehr zu praktizieren“. Wie das geht und wie es sich anfühlt, erklärt sie gleich mit. Im Aufklärungsunterricht mit Jungen hat sich dagegen ein anderer pädagogischer Trick bewährt. „Ich bitte die Schüler einfach, alles möglichst falsch zu machen. Dann kann selbst der größte Macho mitmachen, ohne sich zu kompromittieren“, sagt Lucyna Wronska.
Wer hingegen einen Jungen zwingt, sich als Unwissender in Sachen Sex zu outen, muss sich klar sein, dass er ihn gleich doppelt beschämt. „Das verzeiht er nie“, sagt Wronska. Jugendliche wittern es sofort, wenn die Lehrer sie nicht aufklären, sondern missionieren wollen. Erreicht wird meist das Gegenteil: Aus Loyalität zur Familie verteidigen die Jugendlichen dann erst recht die Wertvorstellungen ihrer Eltern – auch gegen eigene Interessen. Gelegentlich geht die Solidarität sogar so weit, dass sie arrangierte Ehen eingehen.
Die Sexualtherapeutin Meral Renz, die für die Arbeiterwohlfahrt Essen Lehrer fortbildet, stellt immer wieder erstaunt fest, „wie unreflektiert die Normen der sexuellen Revolution im Unterricht gepredigt werden“. Am schwersten fällt den Lehrern der Abschied von der Vorstellung, der Islam sei eine zutiefst lustfeindliche Religion. Dabei dient die Sexualität im Islam neben der Fortpflanzung der sexuellen Erfüllung beider Partner und gilt als „Vorgeschmack aufs Paradies“. Schafft es ein Mann nicht, seine Frau zu befriedigen, kann das sogar ein Scheidungsgrund sein. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum die drängendste Frage von Ebu und Ercan die nach „der optimalen Beschaffenheit des Penis“ ist.
Gerade solche Fragen gilt es ernst zu nehmen. „Entscheidend ist der Respekt gegenüber den Jugendlichen“, erklärt Lucyna Wronska. Geschieht das nicht, reden Lehrer und Schüler aneinander vorbei: „Wenn sie nicht einsehen, wie ich darüber denke“, sagt Ercan, „sehe ich auch nicht ein, wie sie darüber denken.“
* Namen der Schüler geändert
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