SZ 21 01 03

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Aktienkurse gehören nicht in die Schule

Von Peter Köpf und Alexander Provelegios

Deutschlands Unternehmer sind glücklich über die Ergebnisse der Pisa-Studie. Nach außen tragen sie Bestürzung und tiefe Sorgenfalten zur Schau. Im intimen Kreis werden die Ergebnisse aber als große Chance erkannt. um jetzt Reformprozesse in Gang zu bringen, die vorher nicht möglich waren. Man redet von Reform, weil in diesen Kreisen von Revolution nicht gern gesprochen wird. Dabei steht das ganze bisher weitgehend staatlich organisierte Bildungswesen zur Disposition, ein riesiger Markt, der nun endlich erschlossen werden kann. Spätestens seit Pisa glauben sogar Bildungspolitiker an den Deus oeconomicus. Im Schatten des Pisa-Orkans schicken seine Apostel sich an, Kinder- und Klassenzimmer zu missionieren. Ihre drei wichtigsten Gebote lauten: 1. Kinder sind unsere Zukunft. 2. Wir brauchen mehr Wirtschaftsunterricht in den Schulen. 3. Das Schulwesen muss privatisiert werden. Die Litanei klingt in den Ohren der Jünger zukunftsweisend, die Gemeinde wächst. Aber es gibt Gründe, ihrer Religion zu misstrauen.

Beginnen wir mit Gebot 3: Nachdem die Privatisierung die Kunden von Bahn, Post, Telekom und Krankenversicherungen beglückt hat, soll nun auch das Schulwesen gänzlich in die Hände von Unternehmern gelegt werden. DIHK- Vizepräsident Nikolaus W. Schües wirbt seit Jahren dafür, „dass sich der Staat aus seiner Rolle als Schulanbieter vollkommen zurückzieht“. Bisher scheitere ein wirklicher Wettbewerb daran, so Schües, dass sich die Privatschulen „vorwiegend über Elternbeiträge finanzieren müssen, während das Angebot staatlicher Schulen voll aus Steuermitteln finanziert wird.“

Diese Bundesregierung scheint bereit zu sein für diese Revolution. Auf der Internetseite des Bundesbildungsministeriums warb mit Erscheinen der Pisa- Studie Unternehmensberaterin Antonella Mei-Pochtler, Geschäftsführerin der Boston Consulting Group, für die Schule als „geregelten Marktplatz“. Sie will Vorbildschulen, die in den Ländern durch Ranglisten erfasst werden und so Wettbewerb schaffen. Was vorbildlich ist, darüber soll ein „Initiativkreis Bildung“ entscheiden, ein „Kreis von potenziellen Nachfragern und Nutzern, die unabhängig sind. Sie dürfen nicht ein einseitiger Teil der Bildungsmaschinerie sein.“ Teil welcher Maschinerie sollen die Entscheider des Initiativkreises denn dann sein? Mei-Pochtler dachte natürlich an „eine Unternehmensberatung wie Boston Consulting Group“.

Die feindliche Übernahme der Klassenzimmer ist also längst im Gang. Sogar Bündnis 90/Die Grünen basteln an der Privatisierung des Schulwesens mit. Auf Veranstaltungen der Heinrich-Böll-Stiftung wird das Modell Bildungsgutscheine favorisiert. Das Kalkül: Jedes Kind erhält einen Gutschein, den es an einer Schule seiner Wahl gegen Unterricht einlösen kann. Das klingt nach Wettbewerb um Schüler, das klingt nach Leistung durch Konkurrenz. Chile hat die Idee der Bildungsgutscheine, die von Milton Friedman stammt, dem Theoretiker des Neoliberalismus, umgesetzt – unter Augusto Pinochet. Eine merkwürdige Allianz. Abschreckend ist das Ergebnis des chilenischen Feldversuchs allemal: Studien haben ergeben, dass in Chile nicht die Schüler ihre Schule aussuchen durften, sondern die Schule ihre Schüler. Zu den Privatschulen, deren Gebühren über dem Wert der Gutscheine lagen, wechselten vor allem Kinder aus Familien mit mittleren und höheren Einkommen. Von den oberen 20 Prozent der einkommensstärksten Familien ging nur ein Viertel der Kinder in öffentliche, 32 Prozent in staatlich unterstützte, dagegen 43 Prozent in Eliteschulen.

Zum 2. Gebot: „Es ist eine Kernaufgabe der Schule, junge Menschen mit dem Leistungsgedanken vertraut zu machen und so auf das spätere Leben vorzubereiten“, behaupten Schües und seine Bildungsexperten. Sie empfehlen „praktische Aufgabenstellungen aus der beruflichen Praxis“, etwa „die Erstellung kurzer, aussagekräftiger Berichte, die Behandlung kaufmännischer oder gewerblich-technischer Sachverhalte sowie das Verfassen englischer Geschäftsbriefe.“

Das Deutsche Aktieninstitut, dessen Aufgabe es ist, „die Stärkung der Aktienakzeptanz bei Unternehmen und Anlegern“ zu fördern, hat Nägel mit Köpfen gemacht und gleich ganze Lehrpläne für ein Fach Wirtschaft erstellt, das künftig an allen allgemein bildenden Schulen gelehrt werden soll. Inhalte sind etwa „Geldanlage und Vermögensbildung des privaten Haushalts“ oder „Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt“. Die Literaturvorschläge des Instituts verweisen ausschließlich auf Bücher aus dem eigenen Haus.

Wenn aber mehr Wirtschaftsunterricht rein soll, was fliegt dafür aus den Curricula raus? Sollen Kinder noch Schiller und Goethe lesen, wenn die Performance von Aktienfonds doch viel wichtiger ist? Wen interessiert noch Geschichte, wenn die Zukunft auf dem Spiel steht? Religion? Dafür gibt’s doch sonntags die Kirchen. Wer braucht noch Sport? Solche für den Wirtschaftsablauf irrelevanten Fächer haben in einer Schule, die konsequent vom Deus oeconomicus bestimmt wird, keine Daseinsberechtigung.

Zum 1. Gebot: Kinder sind unsere Zukunft. Unsere? Wessen Zukunft? Der Wiener Soziologe Helmut Wintersberger nennt sie unverblümt „Ressource bei der Lösung der anstehenden Probleme“. Auch eine Kinderforscherin wie Donata Elschenbroich ist vom Deus oeconomicus und dessen Regeln dominiert: „Offensichtlich“, merkt sie in ihrem Bestseller an, „investieren manche Schichten, oder historische Epochen, oder manche Kulturen mehr oder weniger Sorgfalt in die ersten sieben Jahre als andere – mit Auswirkungen auf die kollektive Intelligenz ganzer Gesellschaften“. Nun sollen also deutsche Kinder wieder für die „kollektive Intelligenz“ lernen, und wenn die wenigen vorhandenen zu schwach dazu sind, müssen eben mehr her: Die Ökonomen Andrea und Roland Tichy erinnern Erwachsene ernsthaft an ihre „Pflichten gegenüber Familie, Vaterland und Zukunftssicherung“.

Kinder müssen viel ertragen, auch elterlichen Ehrgeiz oder, um es freundlicher zu sagen, dass Eltern nur ihr Bestes wollen. Zielstrebig richten Mittelstandseltern ihren Blick und den ihrer Kleinen nach vorn, in die Zukunft. Heute ist in der Schule und bei der Erziehung ausschließlich richtig, was im Berufsleben nützt.

Gibt es noch Pädagogen, die darauf bestehen, dass Kinder Kinder sein dürfen? Gibt es noch Eltern, die darauf beharren, dass ihre Kinder Recht auf das ganze Leben haben, dass das Leben zwar auch aus dem Arbeitsleben besteht, aber außerdem noch eine ganze Menge anderer „Contents“ enthält? Wer diese Fragen mit Ja beantwortet, muss wach sein. Eltern und Pädagogen dürfen diese Richtung weisende Debatte nicht den Netzwerken einiger old boys und den Kultusministerien überlassen, sonst könnte es von dort bald heißen: In Zukunft sind die Kinder unser. Diese unausweichliche Entscheidung prägt in der Tat die Frage der Zukunft unserer Kinder. Sie lautet: Wie viel Ökonomie braucht die Schule? Wie viel Wirtschaft braucht ein Kind?



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