Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Günter Wittek schrieb:
> Die "Gefahr", dass "unser gutes Bildungssystem zum Experimentierfeld
> werden darf", ist ohnedies äußerst gering. Wir blicken zurück auf vier
> Jahrzehnte Stillstand, auf eine permanente "Rien ne vas plus -
> Stimmung".
Ich habe vor 21 Jahren maturiert. Wenn ich den Schulbetrieb damals und heute vergleiche, fallen mir viele Veränderungen auf, und zwar sowohl strukturelle, als auch inhaltliche. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Abschaffung der Klassenzüge in den Hauptschulen: In der Folge hat die Hauptschule vor allem im städtischen Bereich massiv Schüler verloren, was zu einem deutlichen Niveauverlust sowohl in der AHS-Unterstufe (wo viele eigentlich nicht geeignete Kinder aufgenommen wurden), als auch in der Hauptschule (wo viele Schüler, die früher im 1. Klassenzug gewesen wären, fehlen) geführt hat.
- Einführung wortidenter Lehrpläne an Hauptschulen und AHS: Auch das hat sich nicht unbedingt positiv auf das Niveau der AHS-Unterstufe ausgewirkt. Ob diese Lehrpläne auch in der 3. Leistungsgruppe erfüllt werden können, wage ich als Nicht-Hauptschullehrer nicht zu beurteilen.
- Oberstufenreform Ende der 80er-Jahre mit Einführung der Wahlpflichtfächer und weitreichender Reform der Reifeprüfung (Kern- und Spezialfragen, Fachbereichsarbeiten, fächerübergreifende Prüfungen, vertiefende Schwerpunktprüfung mit Wahlpflichtfach): Seither kommen persönliche Interessen der Schüler in der Oberstufe und bei der Reifeprüfung wesentlich besser zur Geltung.
- Einführung des Informatikunterrichts Mitte der 80er-Jahre und seither Computer-Einsatz in vielen Gegenständen: nicht immer nur positiv (wenn man Neues ausprobiert, bewährt sich eben nicht alles), aber insgesamt sicher ein Fortschritt und heute nicht mehr wegzudenken
- Einführung der Autonomie in der Unterstufe in den 90er-Jahren. Seither können Schulen in einem gewissen Rahmen Stundentafeln und Lehrpläne selbst verändern und an regionale Erfordernisse, Interessen etc. anpassen.
- Ab 2004 die bereits beschlossene Oberstufe neu mit Ausdehnung der Autonomie auf die Oberstufe. Dadurch wird es möglich sein, an der Schule selbst über viele neue Gestaltungsmöglichkeiten zu entscheiden.
- Einbindung von Schülervertretern in viele Entscheidungen an der Schule durch Schaffung und permanente Aufwertung von Schulgemeinschaftsausschüssen. Das ist zwar nicht ganz ungefährlich, falls man destruktive Schülervertreter hat, aber wenn das Schulklima passt, wählen die Schüler überwiegend vernünftige Vertreter. Eine gute Zusammenarbeit im SGA wirkt sich wieder positiv auf das Schulklima aus. Die Möglichkeit zur Mitgestaltung an der Schule kann ein wesentlicher Beitrag zur politischen Bildung der Schüler sein. Mir kommen die Schüler meiner jetzigen 8. Klasse, von denen mehrere in den vergangenen Jahren aktiv in der Schülervertretung mitgearbeitet haben, wesentlich reifer vor, als wir damals waren.
- Völliger Umbau der Lehrpläne: Während vor 20 Jahren vor allem Lerninhalte in Form von Kapitelüberschriften festgeschrieben waren, sind heute die Lernziele festgelegt. Der Lehrer kann die Inhalte dazu in einem gewissen Rahmen selbst auswählen.
- Viele Neuerungen bei den Unterrichtsmethoden: Auch hier ist nicht alles positiv (man muss eben vieles probieren, um zu sehen, was sich bewährt), aber insgesamt sind große Fortschritte in den letzten 20 Jahren festzustellen. Vieles, was es heute an projektorientiertem Unterricht, Schulveranstaltungen, eigenverantwortlichem Arbeiten etc. gibt, war damals weitgehend unvorstellbar. Schüler haben heute viel mehr Möglichkeiten mitzugestalten.
- Gravierende inhaltliche Änderungen: Hier kann ich natürlich vor allem Aussagen über meine Gegenstände (Mathematik und Physik) machen. Heute spielt in Mathematik das Argumentieren und Begründen eine wesentlich größere Rolle als früher (ist auch seit den späten 80er-Jahren im Lehrplan der Unterstufe und seit 1989 im Lehrplan der Oberstufe stark verankert), während ich seinerzeit als Schüler fast ausschließlich reine Rechenbeispiele zu bearbeiten hatte. In Physik haben die Schülerversuche (früher gab es dafür an den meisten Schulen keine Ausstattung) große Fortschritte gebracht. Auch die Physik des 20. Jahrhunderts und ihr Einfluss auf das Weltbild sind heute wesentlich stärker im Lehrplan verankert als früher.
Ich kann wirklich keinen Stillstand und schon gar keine "Rien ne va plus"-Stimmung im pädagogischen Bereich feststellen. Wenn bei mir in den letzten Jahren zeitweise Frustration aufgekommen ist, dann war diese durch Sparprogramme ausgelöst - die haben aber nichts mit 2/3-Mehrheit für Schulgesetze zu tun, sondern mit massiven Budgetproblemen, verursacht durch 30 Jahre katastrophale Finanzpolitik, die zu einem riesigen Schuldenberg geführt hat.
> Die meisten Schulversuche waren in Wahrheit nur für die Schublade, das
> angegebene Ziel einer "Überführung in das Regelschulsystem" wurde weit
> verfehlt.
Diese Behauptung geht an der Realität völlig vorbei. Gerade die soeben beschlossene Oberstufe neu ermöglicht, viele Schulversuche ins Regelschulwesen zu übernehmen, wenn man sich an der Schule darauf einigt. Als Beispiel möchte ich einen Schulversuch an meiner Schule (Laborunterricht in Physik, Chemie und Biologie im Realgymnasium)
anführen: Die Stundentafel des bisherigen Schulversuchs kann mit geringfügigen Änderungen übernommen werden, wenn der SGA zustimmt - und daran zweifelt bei uns niemand, weil der Schulversuch zu einer deutlichen Zunahme der Schülerzahlen sowohl in der Unterstufe als auch in der Oberstufe geführt hat und sich bei den meisten Schülern positiv auf die Motivation und somit auf die Leistung ausgewirkt hat.
> Übertragen Sie bitte den richtigen Gedanken von Koll. Kohlmaier zum
> Pensionssystem auf unser Bildungssystem: Neoliberale Bildungspolitiker
> verbreiten zunächst Horrormeldungen, dass unser verbeamtetes,
> antiquiertes Bildungssystem nicht reformierbar ist, um dann durchs
> Hintertürl mit der Lösung zu kommen. "Private Schulen machen alles
> besser."
Ich weiß nicht, wer hier mit neoliberalen Bildungspolitikern gemeint sein soll. Jedenfalls verbreitet weder die Bildungsministerin, noch der Bildungssprecher der ÖVP, noch die "schwarze" Lehrervertretung, noch "die Wirtschaft" Horrormeldungen über unser Bildungssystem oder bezeichnet es als unreformierbar. Im Gegenteil: Bei der Reform der Oberstufe, die von der Ministerin verordnet wurde, sind zahlreiche Ideen von Lehrervertretern eingeflossen, und "die Wirtschaft" hat vor kurzem eine Studie über Standortvorteile und -nachteile in verschiedenen Ländern veröffentlicht, in der das österreichische Bildungssystem gemeinsam mit dem PISA-Sieger Finnland an die erste Stelle gereiht wurde. Die Wirtschaft sieht also unser gutes Bildungssystem als einen ganz großen Standortvorteil für die österreichische Wirtschaft. Ich kenne auch keinen österreichischen Bildungspolitiker, der das öffentliche Schulwesen privatisieren will - dieses Horrorszenario wird lediglich von einigen Kollegen im Lehrerforum verbreitet, und zwar ausschließlich von solchen, die sich selbst nicht als neoliberal, sondern als links positionieren. Mag sein, dass es solche Bestrebungen in anderen Ländern, etwa in den USA, tatsächlich gibt, und dass man wachsam sein muss, damit nicht etwas in diese Richtung in internationale Verträge hineinrutscht. Aber kein österreichischer Bildungspolitiker will öffentliche Schulen privatisieren. Auf der anderen Seite gibt es aber m.E. auch keinen Grund, bereits bestehende Privatschulen abzuschaffen. Solange das öffentliche Schulwesen gut funktioniert - und das ist derzeit zweifellos der Fall - und somit niemand gezwungen ist, seine Kinder in eine teure Privatschule zu schicken, um ihnen eine gute Bildung zu ermöglichen, können viele öffentliche und ein paar private Schulen gut nebeneinander existieren.
Nur wenn wir das öffentliche Schulwesen in die falsche Richtung reformieren (etwa durch Einführung der Gesamtschule oder wie immer das heute genannt wird) und das Niveau der öffentlichen Schule kaputt machen, bekommen wir die gleichen Probleme wie manche andere Länder (etwa Frankreich, USA), wo man seine Kinder in teure Schulen schicken muss, um ihnen eine gute Bildung zu ermöglichen, was sich aber natürlich nicht alle leisten können.
Ich bin der Ansicht, dass unsere Schule Reformen braucht. Aber gut überlegte Reformen, die das Niveau bewahren oder verbessern. Keinesfalls darf die Schule zum Spielball der Ideologie werden. Das würde aber zwangsläufig passieren, wenn man grundlegende Schulgesetze mit einfacher Mehrheit ändern könnte. Die Folge wäre bei jedem Regierungswechsel eine ideologisch motivierte Kehrtwendung in der Schulpolitik. Und wenn man mit einfacher Mehrheit einmal etwas ruiniert hat (z.B. die AHS-Unterstufe, sobald einmal rot-grün die die Mehrheit hat), kann man es nachher nicht mehr so leicht wieder aufbauen.
Wir brauchen die 2/3-Mehrheit für Schulgesetze, damit Reformen im Schulwesen von einem breiten Konsens in der Gesellschaft getragen werden. Für ideologisch motivierte Experimente ist die Bildung unserer Kinder zu wichtig.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Friebel
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