Vier Einwände:

1. Die verschämt in Klammern gesetzte Formulierung „(nicht ohne differenzierte Förderung)“ unterschlägt zwei Fakten: a) im „integrierten“ (= aktuellen) System gibt es für Hochbegabte kein Geld;
b) im „integrierten“ System gibt es auch keine ausgebildeten Förder-Lehrer.
Aus einem Vortrag des Direktors der Wiener Popper-Schule vor einigen Jahren ist mir erinnerlich, daß dort einem Lehrer nur eine Klasse zugemutet wird – d.h., das Lehrer-Team rekrutiert sich aus verschiedenen anderen Schulen und nimmt in der Popper-Schule nur eine Art „Gastprofessur“ wahr, weil dort der Aufwand viel höher ist. Mit handverlesenen, hochmotivierten Lehrern, die sich privat weitergebildet haben, hat die Sache in der Popper-Schule funktioniert – wahrscheinlich gerade deswegen, weil dort Gleichgesinnte (Lehrer) beisammen waren. Ob ein Einzelkämpfer (Lehrer) an einer „integrierten“ Schule sich das antut (für bloß zwei oder drei Schüler anstatt immerhin einer ganzen Klasse wie bei Popper) und überlebt, sei dahingestellt. Und ob es für bloß zwei oder drei Schüler pro Schule pro Interessensgebiet je eine finanzielle Extra-Dotierung gibt, erst recht.

2. Aspekt „Integration“:

a) Hochbegabte leiden oft gerade darunter, von der Umwelt ausgegrenzt und nicht verstanden zu werden. Manche könnte man z.B. als „IQ-Mobbing-Opfer“ betrachten. Die erfahren erstmals Integration und Verständnis unter Ihresgleichen. Die Formulierung der Kollegin Uhlmann „sie Verantwortung spüren zu lassen“ dreht den Sachverhalt um – die Verantwortung liegt bei den Ausgrenzern, nicht bei deren Opfern!

b) Wenn ich mir vorstelle, daß ein Leopold Mozart seinen Sohn auch hätte „integrieren“ können, dann bin ich froh, daß er es nicht getan hat.

3. In Finnland sei der Einzelne wichtig und man wolle keine Talente
verlieren:

Wie Recht doch die finnische Bildungsministerin hat, wenn sie sagt, daß Begabtenförderung eine politische Entscheidung sei. Man muß schon eine sehr dicke (Partei-)Brille aufsetzen, um eine spezielle Förderung von Begabten als „Verlust“ für die Gesellschaft zu definieren.
Aber vielleicht sind ja wirklich z.B. mit diversen Sängerknaben eine Menge brav sozial integrierter Feuerwehrleute oder Fußball-Spieler im örtlichen Verein als wertvolle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft verloren gegangen. Sie haben ihre unwiederbringliche Jugendzeit abseits des angestammten Kameradenkreises mit egoistisch-elitärer Singerei verplempert, anstatt ihre soziale Kompetenz bei der Feuerwehr-Jugend oder in der Nachwuchs-Mannschaft zu fördern ...


4. Wen die o.a. Argumente nicht überzeugen, den lade ich zu einem Gedanken-Experiment ein:

Schaffen wir doch einmal die Schigymnasien und Schi-Hauptschulen ab, aus denen so viele österreichische Wintersport-Talente gekommen sind, und schauen wir, was herauskommt, wenn man deren präsumptiven Zöglingen die von Koll. Uhlmann vorgeschlagene „differenzierte Förderung“ an ihren angestammten Heimatschulen angedeihen läßt ...


Erich Wallner






-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: owner-lehrerforum@ccc.at [mailto:owner-lehrerforum@ccc.at] Im Auftrag von Ursula Uhlmann
Gesendet: Montag, 10. Februar 2003 23:20
An: Lehrerforum
Betreff: LF: finn.bildungsministerin

Noch ein Puzzlestück aus den Gesprächen mit der finn. Ministerin:
 
In einem Gespräch in einer kleineren Runde nach dem Vortrag hat sich die finn. Bildungsministerin Frau Maija Rask auch zum Thema "Förderung der Begabten" geäußert.
Es sei eine politische Entscheidung, ob man begabte von weniger begabten SchülerInnen trenne, wie es in Amerika passiere, wo nach Untersuchungen mehr Hochbegabte und viele minderbegabte SchülerInnen das System verlassen. Oder sich für ein integrierendes System entscheide, wie es Finnland getan habe. Finnland sei ein kleines Land, in dem der Einzelne wichtig sei. Man wolle keine Talente verlieren.
Hochbegabte im Klassenverband zu belassen (nicht ohne differenzierte
Förderung) bedeute, sie in der Gesellschaft integriert sein zu lassen. Sie weiterhin spüren zu lassen, wie groß die Unterschiede, auch die sozialen Unterschiede sind. Sie Verantwortung spüren zu lassen für die anderen, die Minderbegabten. 
 
Das erscheint mir einfach klug zu sein. Klug für eine Gesellschaft. Mit dem Wissen, mit der Förderung auch Verantwortungsbewusstsein, gelebtes Verantwortungsbewusstsein mitzugeben.

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