DER STANDARD
Montag, 24. Februar 2003, Seite 19
Kommentar der anderen
Die Stundenplan-Fetischisten
Wie Kreativität an unseren Schulen systematisch verhindert wird
Die derzeit heftig diskutierte Forderung nach der 45-Minuten-Unterrichtsstunde zeigt ungewollt die Systemfehler unserer Bildungseinrichtungen auf. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen - und ich glaube, auch unsere beruflichen Erfahrungen - zeigen, dass Kinder in unserem System lerntechnisch nicht gefördert werden. Maximal 20 Minuten einiger Stunden sind wirklich nützlich. Der Rest dient dem Systemdrill. Und der "Denkbehinderung". Ein gewisser "von Bartenstein" hat die Stundenpläne der Kinder Maria Theresias gebaut. Er ging von 30-minütigen Einheiten aus. Und das vor rund 250 Jahren!
Wem ist eigentlich diese kinderfeindliche Organisationsstruktur unserer Bildungseinrichtungen eingefallen? Wer verantwortet diese Schwachsinn zum Quadrat: 50 Minuten Geschichte, 50 Minuten Mathematik, 50 Minuten Deutsch usw.?
Gegen jede wissenschaftliche Lerntheorie, gegen alle Grundsätze der Gesundheitserziehung (Haltungsturnen soll dann helfen?!), gegen alle Erkenntnisse der Gruppendynamik werden junge Menschen in unseren Schulen am Lernen gehindert. In der Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert. Die Ausbildung sozialer Kompetenzen verhindert. Es wird gehindert, verhindert, behindert! Nicht gefördert, ermöglicht, erlaubt.
In Schulgebäuden, die wie Wohnhäuser konzipiert sind, werden Kinder in Gruppen zu 20 bis 30 Schülern "gehalten". Bildungs-Legebatterien eines kinderfeindlichen Systems, erfunden, um zu disziplinieren, um freie Gedanken, kreative Ideen und kritische Bürger zu verhindern. Das mag im ausgehenden 19. Jahrhundert dem Staat gedient haben. Heute wird ein unpassendes System zu unpassenden Ergebnissen führen.
Pseudodebatte
Es ist an der Zeit, nicht nur nach modern gestalteten Bildungsgebäuden zu rufen, sondern auch die gesamte Organisationsstruktur abzubrechen. Erst wenn die Systemzwänge beseitigt sind, erst wenn begriffen wird, dass unsere gesellschaftlichen Ziele nur mit glücklichen, lebensfrohen, leistungsbereiten Kindern erreicht werden können, werden wir die Bildung
kind- und menschengerecht gestalten können.
Es ist unerheblich, ob eine Unterrichtsstunde 50 oder 45 Minuten dauert. Die Einengung in zeitlich begrenzte Einheiten bringt das Lernklima von selbst um. Die Einengung in räumlich begrenzte Lernräume erzeugt unnötige Spannungen und behindert die soziale Interaktion.
Topf-Logik
Kleingruppen, Lernteams, Freiräume, Austausch mit anderen Gruppen, zeitliche Ungebundenheit müssen erreicht werden. Kernzeiten für alle Schüler und Lehrer, gleitende Arbeitszeiten und individuell gestaltete Übungsmöglichkeiten mit den dazu passenden Baulichkeiten könnten Lösungsansätze bieten.
Die Entwicklungen der letzten Jahre weisen allerdings in eine andere Richtung. Die Lehrerarbeitszeit wurde in "Töpfe" gestopft: Topf A enthält die gehaltenen Stunden, Topf B die dafür nötige Vorbereitung und Topf C die restlichen Stunden, die nötig sind, um eine Jahresarbeitszeit zu erreichen, die mit der eines Beamten in einem Büro vergleichbar ist.
Wie sollen da jemals kreative Problemlösungen entwickelt werden, wenn die Behörde mit dem Zählen der Stunden in den einzelnen Töpfen beschäftigt ist und die Kollegen darüber diskutieren, ob der Lehrer X auch wirklich 15 Jahresstunden für die Pflege des Schulrasens gebraucht hat?
Helmut Handler-Kunze
Hauptschuldirektor, Dornbirn
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