DER STANDARD
Mittwoch, 5. März 2003, Seite 8

Schulpraxis in Österreich: Mütter und Väter als Zweitlehrer

Eine generelle Verkürzung der Unterrichtsstunde von 50 auf 45 Stunden und die Konzentration der Bildungsinhalte aufs Wesentliche verlangt der Salzburger Bildungsforscher Günter Haider. Mit ihm sprach Martina Salomon.

Standard: Was halten Sie davon, den Unterricht um zwei Stunden zu verkürzen?
Haider: Unsere Schüler sitzen sicher zu lange im Unterricht - und diese Länge hat, wie man an der Pisa-Studie sieht, keinen direkten Bezug zu den Leistungen.

STANDARD: Französische Kinder gehen ganztägig in ihre Schulen und lernen dort auch. Sollten die abgezwackten Unterrichts- nicht in Förderstunden verwandelt werden?
Haider: Bei uns gibt es einen hohen Anteil von Müttern und Vätern, die quasi als Zweitlehrer zu Hause arbeiten.

STANDARD: Ist das denn ein wünschenswertes Modell?
Haider: Nein, es ist halt die Praxis bei uns. In Ganztagsschulsystemen wie in Finnland, Schweden oder Frankreich schaut das anders aus.

STANDARD: Wie soll die Stundenkürzung konkret aussehen?
Haider: Wir Bildungsforscher meinen, dass die Schulstunden von 50 auf 45 Minuten reduziert werden könnten. Damit müssten sich alle Fächer Gedanken machen: Wo ist das Wesentliche, wo kürze ich?

STANDARD: Lehrer müssten dann automatisch mehr Unterrichtseinheiten übernehmen.
Haider: Wenn man die Stunden um zehn Prozent kürzt, wird man auch die Lehrverpflichtung entsprechend erhöhen. Eine Anpassung könnte schrittweise über zwei bis drei Jahre erfolgen. Mit der 45-Minuten-Einheit wäre es aber einfacher, manche Fächer in den höheren Schulstufen gleich zu 90-Minuten-Einheiten zu blocken, was einige Länder bereits praktizieren.

STANDARD: Gehrer will auch Bildungsinhalte reformieren.
Haider: Man müsste tatsächlich den Umfang der Vorschriften erheblich kürzen.

STANDARD: Sollte man dann nicht auch den Fächerkanon ändern und Flächenfächer, etwa Chemie/Physik, schaffen?
Haider: Die Idee ist gut - zumindest für die Mittelstufe. Viele Länder haben Naturwissenschaften als Flächenfach. Man könnte auch kulturwissenschaftliche Fächer zusammenlegen. Die ursprüngliche Idee, dass sich getrennte Inhalte in Schülerköpfen automatisch vernetzen, kann man in der Praxis als ziemlich gescheitert annehmen.

STANDARD: Unterrichten österreichische Lehrer individualistischer als anderswo?
Haider: Ja, das ist das Problem, das wir haben: Es wird sehr individualistisch gelehrt, aber leider nicht im individualisierten Unterricht.

STANDARD: "Individualisiert" würde bedeuten, dass man auf Stärken und Schwächen einzelner Kinder eingeht?
Haider: Ja, in anderen Ländern ist das das Credo der Pädagogik. Die finnischen Erfolge sind nur durch den sehr stark individualisierten Unterricht erklärbar. Die haben eine Gesamtschule und müssen die Leute dort abholen, wo sie wirklich stehen.

STANDARD: Verlässt sich das heimische Schulsystem zu sehr auf die Elternmitarbeit?
Haider: Bei uns fängt die Arbeit zu Hause erst an. Und die 10- bis 14-Jährigen werden zu sehr zugeschüttet von Schule: 34 bis 35 Unterrichtsstunden plus Hausübung, plus, plus plus . . . Man sollte die Stundenkürzung mit einer Konzentration auf wesentliche Inhalte verbinden.

STANDARD: Sind die Lehrer schlecht motiviert?
Haider: Ich bemerke an der Uni eine Tendenz, wonach der Anteil jener, die das Lehramt anpeilen, weil sie nicht wissen, was sie sonst studieren sollen, steigt. Das ist meistens kein gutes Zeichen für die Attraktivität des Jobs. In Finnland ist der Lehrberuf einer der anerkanntesten.

STANDARD: Verdient man mehr?
Haider: Ein wenig. Aber das ist es nicht - es ist eher die rundum positive Einstellung zur Schule, hohes Lehrer-Image und die Arbeitssituation an den Schulen - mehr Teamarbeit etwa. Bei uns legt der Lehrer morgens seine Sachen auf 0,65 Quadratmetern im Konferenzzimmer ab, geht in die Klasse, macht die Tür zu, geht wieder raus, nimmt sein Zeug, geht nach Hause und erledigt die Arbeit daheim. Diese Kultur muss natürlich auch aufgebrochen werden.


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