Das fliehende Klassenzimmer


Nach Elisabeth Gehrers Ankündigung kamen großteils kritische Reaktionen, das Ministerium arbeitet aber bereits an Planung und Umsetzung: Denn die Verkürzung der Unterrichtszeit soll schon dieses Jahr kommen.



VON ERICH WITZMANN



Wer geglaubt hatte, Bildungsministerin Elisabeth Gehrer lässt es bei ihrer unbestritten weit reichenden Uni-Reform bewenden, um sich in Österreichs Bildungspolitik zu verewigen, hat sich gründlich geirrt. Nun, in Gehrers dritter Regierungsperiode, ist die Schule dran. Zuerst die Unterrichtsorganisation, dann - in etwa zwei Jahren - soll die Schaffung von Pädagogischen Hochschulen für die Pflichtschullehrer-Ausbildung folgen.
Das Bildungsministerium hat es mit der "Entlastung" der Schüler (so Gehrers Diktion) eilig: Die Verkürzung der Unterrichtszeit um zwei Wochenstunden soll schon ab 1. September dieses Jahres Realität sein. Gesetzlich erfolgt dies über die Lehrplanverordnungen, eine Zweidrittelmehrheit ist hier nicht erforderlich. Damit soll die im OECD-Schnitt überdurchschnittlich hohe Unterrichtszeit zumindest in Ansätzen gesenkt werden.
Schwieriger ist schon die Frage, wo gekürzt werden soll. Die Bildungsministerin will die Entscheidung den einzelnen Schulen überlassen, die dies nach ihrer Schwerpunktsetzung und ihrem Schulprofil autonom durchführen sollen. Und schon fürchten die Fachvertreter, dass gerade ihr Gegenstand zum Handkuss kommen soll. Non vitae, sed scholae discimus. Wer kennt heute noch L. S. Seneca, wer den ironischen Sinn dieser Worte, die ja der Schule schon vor 2000 Jahren kein besonders gutes Zeugnis ausgestellt haben?
Seneca und mit ihm Latein könnte dann auf der Stecke bleiben, wenn die Technikfreaks unserer Tage das Sagen haben. Aber die Altphilologen werden um ihren Stundenanteil verbissen kämpfen, wie die Chemiker oder Mathematiker um ihre Stunden. Und auch von außen wird Druck gemacht. Die Wirtschaftskammer zollt Gehrers Vorstoß Lob, sagt aber gleich, dass die wirtschaftsrelevanten Inhalte im Geografielehrplan nicht eingeschränkt werden dürfen.
Sozialdemokratische Lehrervertreter wollen das Problem gar mit der Streichung von Religion aus dem Pflichtfächerkanon erreichen, was allerdings nach dem geltenden Konkordat nicht möglich ist - und auch keine Zustimmung der Volkspartei finden würde. Ein Kulturkampf dieser Art bleibt Österreich erspart.
In den Volksschulen soll die Schulzeit nun doch weitgehend erhalten bleiben. Die jeweils 21 Wochenstunden in den ersten beiden Klassen sollen bleiben, die jeweils 25 Stunden in der dritten und vierten Klassen sollen auf 24 reduziert werden.
Bei ihrer Entscheidung, was sie kürzen sollen, sind die Schulen nicht völlig frei. Die einzelnen Lehrpläne geben für ihre Fächer eine bestimmte Bandbreite an Stunden vor, innerhalb der sich die Schule bewegen kann. Und außerdem muss jede schulautonome Entscheidung der Landesschulbehörde vorgelegt werden. "Wenn eine Schule ein falsches Gewicht setzt", so Schul-Sektionschef Heinz Gruber, "dann kann der Landesschulrat diese Entscheidung aufheben." Das könnte dann der Fall sein, wenn sie Schule den Fremdsprachenunterricht einschränken sollte - was freilich nicht erwartet wird.
Manche Schulexperten befürchten schon einen Überlebenskampf im Konferenzzimmer. Denn weniger Stunden bedeuten auch weniger Lehrerposten in diesem Fach. Dass es mit der Streichung einiger Überstunden nicht getan ist, wie dies Bildungsministerin Gehrer meinte, ist den Beteiligten klar.
Die Kritiken, mit denen Gehrer in den vergangenen Tagen konfrontiert wurde, fußen freilich auf unterschiedlichen Annahmen: Die Kürzung der Unterrichtszeit kann unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Neuordnung, der organisatorischen Reform (weniger Lehrerstunden) oder der Verringerung der zeitlichen Belastung der Schüler gesehen werden. Elisabeth Gehrer entschied sich für das dritte Argument.
Dass damit freilich weniger Lehrerdienstposten verbunden sind, liegt auf der Hand. In zahlreichen Wortmeldungen wurde nun die Stundenreduktion als notwendige Entlastung begrüßt, gleichzeitig aber die budgetäre Einsparung scharf verurteilt. Dass die Einsparung der Dienstposten eine Folge der Stundeneinsparung ist, wurde dabei geflissentlich übersehen.

"Dann ist mit einem dramatischen Widerstand der Lehrergewerkschaften zu rechnen."
Sektionschef Heinz Gruber
Manche Pädagogen schlagen auch vor, die Unterrichtsstunden von 50 auf 45 Minuten zu kürzen. Auch dann, so das Argument, würden die Schüler auf eine geringere Jahresunterrichtszeit kommen. Das wäre aber im Vergleich zu Gehrers Vorschlag sogar eine noch größere Reduktion.
Im Bildungsministerium winkt man daher müde lächelnd ab. Erstens erfordert dieser Plan eine Änderung des Schulorganisationsgesetzes und damit eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die Zustimmung der SPÖ wäre nur schwer zu erreichen und sicher nicht in diesem Halbjahr. Und zweitens würden mit der 45-Minuten-Stunde die Lehrer mehr Stunden übernehmen müssen. Die Konsequenz: Die Lehrerarbeitszeitverkürzung würde bei zehn Prozent liegen, bei Gehrers Vorstoß aber nur bei fünf Prozent. Dazu Sektionschef Gruber: "Schon bei der Erhöhung der Lehrverpflichtung ist mit dramatischen Widerständen der Lehrergewerkschaften zu rechnen."
Womit klar ist, dass die erst am Montag angekündigte Reform fix ist. Mit einem positiven Effekt für das Dienstposten-Budget. Und mit Beginn am 1. September 2003.

06.03.2003 | © Die Presse | Wien





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