DER STANDARD
Mittwoch, 12. März 2003, Seite 27
Kommentar der anderen 

Flickwerk im Klassenzimmer

Eine Kürzung von Schulstunden wäre schon sinnvoll - aber nur in Verbindung mit einer echten Reform, meint eine Wiener Mittelschuldirektorin.

Heidi Schrodt*

In der im Vorjahr erschienenen Pisa-Studie stellte sich heraus, dass kein Zusammenhang zwischen der Anzahl der Unterrichtsstunden in den einzelnen Ländern und Schulleistungen besteht. Finnland (Pisa-Sieger) und Schweden (mit ebenfalls hohem Testergebnis) weisen besonders niedrige Zahlen auf. Österreichs Kinder hingegen absolvieren die höchste Zahl an Unterrichtsstunden, wobei die Jahresstundenzahl (1148 gegenüber 808 in Finnland) zu hinterfragen ist, da andere Länder die Religionsstunden nicht mitzählen. Bleiben wir aber bei der Frage, ob unsere SchülerInnen tatsächlich zu viel in der Schule sitzen und ob eine Stundenkürzung dem vermeintlichen Übel Abhilfe verschaffen könnte. Natürlich soll es eine Entlastung geben. Doch seriös müsste die Kürzung sein, eingebettet in ein Gesamtkonzept einer Organisations- und Lehrplanreform, mit Veränderungen auf der strukturellen wie inhaltlichen Ebene. Was für eine Chance würde sich hier auftun, die jahrzehntelang verkrusteten Strukturen im heimischen Bildungssystem aufzubrechen! Konzeptlose Reformen
Schulreformen in Österreich sind anders als in anderen Ländern, denn Schulgesetze erfordern im Parlament eine Zweidrittelmehrheit. Das hat im Lauf der Jahre bewirkt, dass der Kompromiss meist nicht mehr am Ende, sondern bereits zum Beginn der so genannten Reform steht. Entsprechend sehen auch die Ergebnisse aus: Flickwerk und Einzelreformen ohne ein erkennbares Gesamtkonzept. Auf dem Weg der vorauseilenden Kompromissbereitschaft ist uns der Mut zum großen Wurf längst abhanden gekommen. Ein Schulreformdiskurs auf wissenschaftlicher und schulpolitischer Ebene ist seit Jahrzehnten nicht erkennbar. Zum aktuellen Anlass: Welche Bedingungen zeichnen die Schulsysteme aus, die sowohl gute Pisa-Ergebnisse vorweisen können als auch eine niedrige Anzahl an Unterrichtsstunden? Es handelt sich durchwegs um Ganztagsschulsysteme in einer gemeinsamen Schule, die höchste Effizienz bei größtmöglicher Individualisierung erreichen. Das ist der zentrale Punkt: Der hohe Grad an Individualförderung (in
Kleingruppen) führt nicht nur zu besseren Ergebnissen, sondern auch zu geringerer Unterrichtszeit. Um dorthin zu gelangen, müssten wir unsere Unterrichtsorganisation und die Inhalte ändern: Ganztagsschulen, gemeinsame Schulen mit Binnendifferenzierung, Unterricht in Lernfeldern, Aufheben der starren Unterrichtseinheiten, um nur einige Aspekte zu nennen. Doch die alpenländische Antwort sieht anders aus: Wenn die Medienberichte stimmen, so sind ab Herbst 2003 an allen Schulstufen je zwei Stunden pro Klasse zu kürzen. Quer durch. Binnen weniger Wochen. Auf die Frage, wie dies organisatorisch in der kurzen Zeit schulautonom zu bewältigen ist, möchte ich gar nicht erst eingehen. Die Frage der Sinnhaftigkeit aber muss erlaubt sein - auch angesichts der Ankündigung, dass wir demnächst Leistungsstandards zu erwarten haben. Die sind zweifellos eine gute Sache. Nur: Wieso müssen wir an den Schulen zuerst kürzen und erhalten erst danach die Standards? Warum nicht umgekehrt: zuerst die Standards und dann autonome Schwerpunktsetzung und Lehrplanarbeit? Welcher gefinkelte Plan mag wohl dahinter stecken? Bald müssen wir den Unterricht im Kernstoffbereich nach nationalen Standards ausrichten. Was aber, wenn wir dummerweise 2003 in den Bereichen kürzen, die 2006 in standardisierten Tests abgefragt werden? Tod der Autonomie
Das Schlimmste aber zuletzt: An immer mehr Schulen hat in den letzten zehn Jahren allen Widrigkeiten zum Trotz ein stiller Paradigmenwechsel
stattgefunden: von der zentral gesteuerten Schule hin zur Ansätzen von Schulautonomie. Die Rolle der Schulleitung wird zunehmend professionell verstanden, manche Schulen haben sogar jahrelange Organisationsentwicklungsprozesse hinter sich. Nun aber droht mit der geplanten Stundenkürzung diesem Prozess ein abruptes Ende. Die Autonomie, ohnehin noch ein zartes Pflänzchen, wäre mit einem Schlag zunichte gemacht. Denn wenn die Schulen "autonom" ihre Kürzungen zu exekutieren haben (64 Stunden an einer mittleren Schule mit 23 Klassen), dann wird es für die betroffenen LehrerInnenkollegien schwer sein, den Begriff der Schulautonomie noch positiv zu sehen. Die Schulentwicklungsarbeit von mehr als einem Jahrzehnt wäre an vielen Standorten umsonst gewesen. Wie man es dreht und wendet, es schleicht sich ein böser Verdacht ein: Vielleicht geht es gar nicht um diese Fragen, sondern nur um eine schnelle Einsparmaßnahme.

Heidi Schrodt ist Direktorin des
Bundesrealgymnasium Rahl-
gasse in Wien, 6. Bezirk.


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