Die Furche http://www.furche.at/archivneu/archiv2003/fu1103/08.shtml

Lernen ist die natürliche Lieblingsbeschäftigung unseres Gehirns – bis zur Einschulung? Während der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer dieses Dilemma aus der Sicht der Hirnforschung betrachtet, suchen heimische Lehrerinnen nach neuen Unterrichtsmethoden.

Lustlose Hirnakrobaten

Von Doris Helmberger

Dass wir Menschen wirklich zum Lernen geboren sind, beweisen alle Babys. Sie können es am besten, sie sind dafür gemacht; und wir hatten noch keine Chance, es ihnen abzugewöhnen.“ Wenn es um schulisches Lernen geht, verstärkt sich bei Manfred Spitzer der Hang zum Zynismus. Kein Wunder – betrachtet man jenen Zwiespalt, den der Ulmer Psychologe, Philosoph und Psychiater in seinem jüngsten Buch „Lernen – Gehirnforschung und die Schule des Lebens“ offenlegt: Einerseits sei das menschliche Gehirn mit seinen Milliarden vernetzter Nervenzellen ein regelrechter Informationsstaubsauger, der gar nicht anders könne, als alles Wichtige um ihn herum aufzunehmen. Andererseits aber sei Lernen mit einem hartnäckigen Negativ-Image behaftet – am hartnäckigsten ausgerechnet dort, wo Kinder und Jugendliche tagtäglich lernen sollten: in der Schule.

Eingetrichtertes Wissen
Was also läuft falsch? Warum lässt das Wort „Lernen“ bei vielen Schülerinnen und Schülern die Alarmglocken schrillen? Vielleicht deswegen, meint Spitzer, weil an vielen deutschen (und österreichischen) Schulen Lernen noch immer als passiver Vorgang gleich dem „Nürnberger Trichter“ verstanden wird, mit dem das Wissen dem Gehirn „eingetrichtert“ werden soll. Nur: Diesen Trichter gibt es nicht. Lernen ist ein aktiver Prozess – zumindest dann, wenn es nachhaltig sein soll. Den Lernvorgang zu verbessern heißt also, die Rahmenbedingungen für diese Aktivität zu optimieren.

Wer nun mit der Aufzählung lernpsychologischer Wunderwaffen aus dem Arsenal der Neurodidaktik gerechnet hat, wird von Spitzer enttäuscht: Oft liefert die Hirnforschung nicht mehr als eine Bestätigung alter pädagogischer Weisheiten, wie sie schon Jan Amos Comenius (1592–1670), Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) oder Maria Montessori (1870–1952) gepredigt hatten: dass sich Bilder und Geschichten – dank Hippokampus – stärker im Gehirn festkrallen als Zahlen und Fakten; dass man beim Lernen mit positiven Emotionen arbeiten sollte; und dass ein motivierter Schüler beim Lernen mehr behält.

Moviation, weiß Spitzer, kann man freilich nicht erzeugen – ebenso wenig wie Hunger. Menschen sind von Natur aus motiviert. Die Frage müsse also nicht
lauten: „Wie kann ich jemanden motivieren?“, sondern vielmehr: „Warum sind viele Menschen so häufig demotiviert?“ Spitzer ortet regelrechte „Demotivationskampagnen“ – etwa dann, wenn gerade der Beste gelobt werde. „Lob ist für jeden Schüler wichtig!“, mahnt der Psychiater. Und noch etwas stellt er klar: Die Person des Lehrers bleibe der wichtigste Faktor beim Lernen in der Schule. „Es kommt nicht darauf an, dass der Lehrer irgendwelche didaktischen Tricks beherrscht. Wenn er seine Schüler mag und sie ihn, wird der Unterricht vorangehen.“

Von didaktischen Tricks hält auch Renate Wustinger nicht viel. Von der Erkenntnistheorie Karl Poppers jedoch umso mehr. Als Assistenzdirektorin für den pädagogischen Bereich an der Sir Karl Popper Schule im ersten Wiener Gemeindebezirk hat sie seine berühmte Kübel- und Scheinwerfertheorie des Wissens verinnerlicht. Ähnlich dem „Nürnberger Trichter“ wird nach der Kübeltheorie der Geist als Eimer betrachtet, in den man Wissen hineinschüttet. Dies sei der Natur des Menschen jedoch nicht angemessen, so Popper. Der Mensch lerne vielmehr – im Sinn der „Scheinwerfertheorie“ – durch Versuch und Irrtum, durch phantasievolle, aber fehlbare Spekulationen.

Wustingers Ziel ist es, den hochbegabten Schülerinnen und Schülern der Popperschule eben dieses fehlbare Spekulieren zu ermöglichen. „Letztlich geht es immer darum, die Welt zu begreifen“, meint Wustinger gegenüber der Furche. Dafür sei jedoch eine verstärkte Personalisierung des Unterrichts nötig. „Die Person, die da heranreift, soll darüber bestimmen, wie sie lernt, zum Teil auch, was sie lernt.“ Sowohl mit der Klasse als auch mit dem einzelnen Schüler werden Vereinbarungen getroffen, was im Unterricht wie geschehen soll. Dadurch wird die Eigenverantwortung der Lernenden betont. Die Lehrperson wird folglich von der Wissensvermittlerin immer mehr zum Lernmanager und Coach.

Natürlich kommt bei ihr auch der Frontalunterricht zum Einsatz – abwechselnd mit zahlreichen anderen Lehrmethoden versteht sich, und nicht wie in der österreichischen Bildungslandschaft üblich zu 75 Prozent. „Das entscheidende ist der Rhythmus zwischen geleitetem Unterricht und freien Arbeitsphasen“, betont Wustinger. Nur durch diesen Methodenmix könne man sichergehen, dass sich alle Schülerinnen und Schüler – egal ob visuell, auditiv, kinästhetisch veranlagt, personen- oder medienzentriert – angesprochen fühlen. „Ich nenne das 360-Grad-Didaktik: Wenn wir Lehrerinnen und Lehrer unsere ‚Trefferquote‘ erhöhen möchten, dann müssen wir wie auf einem Radarschirm alle Bereiche regelmäßig ‚abtasten‘.“ Ihr Konzept will Wustinger keinesfalls exklusiv für Hochbegabte verstanden wissen: „Ich habe mit dieser Methode 25 Jahre lang an anderen Schulen gearbeitet. Sie hat sich einfach bewährt.“

Auf Erfahrung können auch Karin Tscherne und Maria Luise Hopfgartner zurückblicken. Als Deutsch- und Geschichtelehrerinnen am Brigittenauer Gymnasium im 20. Wiener Gemeindebezirk haben sie sich dem Modell „EVA – Eigenverantwortliches Arbeiten“ nach Heinz Klippert verschrieben.

Lernen in Spiralen
Hierbei sollen im Unterricht grundlegende Lern- und Arbeitstechniken vermittelt werden. Mit Hilfe von Schummelzetteln oder Mind Maps werden Sachtexte umgearbeitet und in Kurzvorträgen wiedergegeben. Die neu gelernten Methoden werden in so genannten „Lernspiralen“ eingeübt. Ziel ist, dass Schülerinnen und Schüler selbständig arbeiten, ihre Lernmethoden reflektieren – und ohne Angst öffentlich sprechen können. „Das lernen sie nicht, indem ich es ihnen vormache“, meint Karin Tscherne lapidar, „das lernen sie, indem sie es ausprobieren.“

Es gilt also, sich durch Versuch und Irrtum lernend vorzutasten. Nichts anderes hat Popper propagiert. Und nichts anderes machen Babys – so lange man ihnen nicht die Lust am Lernen abgewöhnt.

LERNEN. Gehirnforschung und die Schule des Lebens
Von Manfred Spitzer, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin 2002, 511 Seiten, geb., € 30,80





--
Diese Liste wird vom Personal Computer Club (http://www.pcc.ac) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.