SZ 15 03 03
Der Rosenweg
Seit fast einem Jahr ist das Erfurter Gutenberg-Gymnasium leer. Nur der Hausmeister ist jeden Tag da – und begrüßt die Toten. / Von Marcus Jauer
Am Morgen schließt Uwe Pfotenhauer die Schule auf und steigt die Stufen einer kleinen Treppe nach oben, bis er in der Mitte eines langen, dunklen Ganges steht.
Hier beginnt sein Weg. Es mag in Erfurt andere Wege geben, mit jenem Tag fertig zu werden, an dem 17 Menschen starben. Aber das hier, das ist seiner.
Er läuft den Gang entlang über rote Kacheln und vorbei an braunen Türen, hinter denen Klassenräume liegen. Vor einer der letzten hält er an und öffnet sie. Dann steht er in einem kurzen Flur, der drei kleine Zimmer miteinander verbindet. Hier war das Sekretariat. Die Fenster gehen auf den Schulhof hinaus. Das dünne Licht eines kalten Morgens fällt hinein. Von draußen rauscht die Straße, sonst ist es still. Auf dem Boden, auf dem Linoleum, das wie Holz aussehen soll, liegen Teelichter, daneben Blumen, Rosen, Nelken. Sonst gibt es nichts in den Zimmern. Keinen Tisch, keinen Stuhl, keinen Schrank. Sie sind leer.
Pfotenhauer wartet eine Zeit.
Er ist ein hagerer Mann von 40 Jahren, mit großen Augen und kurzen Haaren. Auf seiner blauen Windjacke steht, dass er Hausmeister ist.
Er hat die Schüsse nicht gehört, die im Sekretariat gefallen sind. Es waren die ersten, und er saß nur ein paar Meter den Gang hinunter in seinem kleinen Raum. Aber er hat sie nicht gehört. Das ist eine von den Sachen, die er nicht versteht.
Am Morgen hatte er die Duden in der Aula verteilt, es waren ja Prüfungen an dem Tag, er hatte die Schulklingel abgestellt, hatte Kaffee gemacht und dem Schüler, der ihn Minuten zuvor auf dem Gang nach der Direktorin fragte, hatte er gesagt, dass sie heute nicht zu sprechen sei. Dann hat er sich nicht weiter um ihn gekümmert, ist in seinen Raum gegangen. Kurz darauf hat er dort etwas gehört, das aus der ersten Etage kam und klang, als sei eine Blechtafel herunter gefallen. Er lief los. Den Gang entlang bis zum Ende, wo sich die Treppe nach oben schraubt. In der ersten Etage lagen zwei Lehrer auf dem Boden. Jemand rief nach der Polizei. Pfotenhauer drehte sich um und stürzte zum Sekretariat. Dann stand er drin. (...)
Uwe Pfotenhauer geht die Treppe nach oben. Es ist ein großes Haus. Gänge und Zimmer. Dazwischen Kerzen. Manchmal bleibt er kurz stehen, manchmal lang. Dann läuft er auf den Hof hin-aus, wo früher die Autos parkten. Und kehrt wieder zurück.
Er hatte die erste Nacht im Krankenhaus verbracht, weil er nicht aufhören konnte zu weinen. Dann war er wieder zur Schule gefahren. Er ging ins Sekretariat, das Blut war noch da, er sortierte die Beileidsbriefe, die aus dem Fax gequollen waren. Er räumte die Mensa auf, das Essen war ja stehen geblieben. Dabei muss er seinen Autoschlüssel verloren haben. Er stand auf dem Hof, als er zwei Frauen vom Schulverwaltungsamt traf. „Ich muss meinen Autoschlüssel finden, sonst komme ich nicht mehr nach Hause“, sagte er immer wieder. Sie brachten ihn zum Arzt. Später fand ein Polizist den Schlüssel. Pfotenhauer wurde beurlaubt, aber er kam immer wieder zurück. (...)
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http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel2732.p
hp
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