SPIEGEL ONLINE - 01. April 2003, 18:06
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Grundschulen im Vergleich

Nach Pisa-Frust gibt es Iglu-Hoffnung
Von Mareike Müller

Beim internationalen Pisa-Vergleich sammelten 15-jährige deutsche Schüler miserable Noten ein. Die Knirpse können es besser: Bei der neuen Iglu-Studie zur Lesekompetenz schnitten deutsche Viertklässler erstaunlich gut ab - die Grundschulen sind offenbar besser als ihr Ruf.

Grundschüler: Schneiden beim Lesen besser ab als befürchtet

Das Siegertreppchen mussten sie Schweden, Großbritannien und den Niederlanden überlassen, aber für einen Platz im oberen Mittelfeld hat es immerhin gereicht: Deutschlands Grundschüler schnitten bei der Internationalen Grundschule-Lese-Untersuchung (Iglu) besser ab, als die verheerenden Ergebnisse der Pisa-Studie es erwarten ließen. 35 Länder beteiligten sich weltweit an der Iglu-Studie, bei der das Leseverständnis von knapp 150.000 Viertklässlern getestet wurde.

In Deutschland füllten mehr als 10.000 Neun- und Zehnjährige den Fragebogen aus - und das offenbar gar nicht so schlecht. Offiziell wird die Studie am 8. April vorgestellt, doch vorab sickerten Teilergebnisse durch. So hatten die Knirpse laut Berichten im "Focus" und der "Welt" kaum Schwierigkeiten beim Lesen und verstanden die Texte auch so weit, dass sie Fragen dazu oft richtig beantworten konnten.


Es gibt viel zu lernen - wann fangen wir an? Die Diskussion zur Pisa-Studie

Platz elf bedeutete das am Ende für Deutschland. Zum Vergleich: Bei der Pisa-Studie landeten Deutschlands Fünfzehnjährige beim Lesen nur auf Platz 21 von 31 Nationen. Allerdings ist der Abstand zwischen den drei Spitzenreitern und dem großen Mittelfeld, in dem sich auch Deutschland befindet, bei Iglu offenbar groß.


Gute Voraussetzung: Früh geweckte Leselust

Sind Deutschlands Grundschulen also besser als ihr Ruf? Iglu könnte Balsam auf den Wunden der Pädagogen sein - bisher galten die Grundschulen als mitschuldig am Pisa- Fiasko. Doch kaum liegen erste Iglu-Ergebnisse vor, kommen Bildungsforscher zu einem neuen Schluss: Schulprobleme in Deutschland beginnen erst ab Klasse fünf.

Das ist erstaunlich: Die deutschen Grundschulen sind im internationalen Vergleich völlig unterfinanziert, das Durchschnittsalter der Lehrer ist hoch. Hinzu kommen die massiven Probleme deutscher Schulen, Einwandererkinder zu integrieren. In den letzten Monaten mehrten sich zum Beispiel die Forderungen, Kinder aus ausländischen Familien erst nach einem Sprachtest zur Schule zuzulassen. Doch offenbar können die Lehrer viele der Probleme durch großes Engagement, ein gutes Lernklima und enge Kontakte zu den Eltern ausgleichen.

Das Gerede von der "Kuschelpädagogik"

Reaktionen auf die bisher bekannten Ergebnisse aus Iglu, der ersten repräsentative Leistungsstudie an Deutschlands Grundschulen, ließen nicht lange auf sich warten. So forderte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft abermals eine politische Debatte über Schulstrukturen. Die GEW sieht in der frühen Auslese einen Hauptgrund dafür, dass der Schulerfolg in Deutschland so stark von der sozialen Herkunft abhängt und die Schüler bei Pisa so schlecht abschnitten. "Die Grundschule als Schule für alle Kinder ist offenbar dem Auslesesystem nach Klasse vier überlegen", sagt die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange.


So viel kosten die Grundschulen

Für Stange ist mit den Iglu-Ergebnissen auch die Diskussion um vermeintliche "Kuschelpädagogik" an den Grundschulen vom Tisch - Wirtschaftsvertreter zum Beispiel hatten wiederholt eine stramme Leistungsorientierung schon in den ersten Klassen gefordert und kritisiert, dass die Schüler zu viel spielten und zu wenig lernten.

Was in erster Linie fehle, sei Geld, meint die GEW-Vorsitzende: Die gymnasiale Oberstufe lässt Deeutschland sich viel kosten, gab aber für einen Grundschüler 1999 nur rund 4000 Euro aus und lag damit weit unter dem Durchschnitt anderer Länder (siehe Grafik). Beistand bekam die GEW-Vorsitzende auch von ungewohnter Seite: Die Unternehmensberatung McKinsey sieht in der frühen Selektion ebenfalls den größten Reformbedarf.

Schon wieder Debatte über Gesamtschulen?

Dass die Leistungen nach der Grundschule so stark sinken, erklärt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, damit, dass sich in einigen Bundesländern die Schüler nach der vierten Klasse frei für eine künftige Schulart entscheiden könnten - egal wie gut oder schlecht ihre Leistungen seien. Die Bonner Erziehungswissenschaftlerin Una Röhr-Sendlmeier hingegen sieht einen anderen Grund: Mit zunehmender Schuldauer lasse der Spaß am Lernen ebenso nach wie die Autorität der Lehrer.

Der Deutsche Philologenverband warnt derweil vor einer neuen Strukturdebatte. Der Vorsitzende Peter Heesen bezeichnete die zurückliegenden Reformdiskussionen als "unfruchtbar" - über 20 Jahre lang hätten sie von den eigentlichen Aufgaben und Problemen der Bildungsarbeit abgelehnt. Viel wichtiger sei es, Didaktik und Methodik des Unterrichts zu verbessern, so Heesen.

Der deutsche Iglu-Projektleiter Wilfried Bos hält ohnedies Schulorganisation und -form für "längst nicht so relevant wie angenommen, ausschlaggebend ist vielmehr der konkrete Unterricht". Für Bos wäre eine Neuauflage der Debatte über Gesamtschulen verfehlt. Er schlägt Videoaufzeichnungen in Klassenzimmern vor, um Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen zu bewerten.


Pisa: Lesen mangelhaft

Auf Basis der Iglu-Ergebnisse erwartet Bos zudem Hinweise für den bildungspolitischen Umgang mit der hohen Zahl von Einwandererkindern in Deutschland. Gerade an vielen Grundschulen erschweren mangelnde Deutschkenntnisse ausländischer Kinder den Unterricht. Laut Bericht haben Kinder, deren Eltern im Ausland geboren sind, in deutschen Schulen nach der vierten Klasse einen Lernrückstand von etwa einem Jahr. Rund 22 Prozent der Viertklässler haben einen Migrationshintergrund, dass heißt, dass ein Elternteil oder beide im Ausland geboren sind", sagte Bos, der vertiefte Migrationsforschungen für ebenso notwendig hält wie eine bessere Qualifizierung der Lehrer.

Nach den ersten Iglu-Ergebnissen zeichnen sich weitere Diskussionen über das dreigliedrige Schulsystem und die frühe Aufteilung der Schüler nach bereits vier Jahren ab. So pochen die Grünen in Nordrhein-Westfalen auf eine verlängerte Grundschulzeit, der Koalitionspartner SPD will aber nicht mitziehen. Einen Anstoß hatte bereits eine neue Pisa-Detailstudie Anfang März gegeben, in der Forscher die verschärfte soziale Bildungsselektion durch das jetzige Schulsystem kritisiert hatten.



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