http://www.zeit.de/2003/15/Grundschule_Deutschland

Von klein auf geht’s bergab

Deutsche Grundschüler schneiden in der Iglu-Studie passabel ab. Was machen die Schulen später falsch?

Von Martin Spiewak

Die Ausländer sind Schuld! Die Gesamtschulen drücken in Deutschland die Leistung! Es fließt zu wenig Geld in die Schulen! Solche Argumente waren schnell zur Hand, um in den vergangenen Jahren die deutsche Pisa-Pleite zu erklären. Am nächsten Dienstag wird man diese Erklärungen als Scheinursache zu den Akten legen können. Denn dann werden die Resultate einer weiteren Lese-Untersuchung präsentiert. Und darin, so viel steht schon fest, nehmen die Deutschen einen passablen Platz ein auf der weltweiten Leistungsskala. Dabei besuchen alle getesteten Schüler – darunter viele Migrantenkinder – eine Schulform, die gerade nicht nach Leistung differenziert und in die im Vergleich nur sehr wenig Geld fließt: die deutsche Grundschule.

Zwar ist großer Jubel unangebracht. Deutschland liegt auch bei der Internationalen Grundschullese-Untersuchung (Iglu) nicht in der Spitzengruppe, sondern nur im oberen Mittelfeld. Dennoch zeigt die Studie, dass die große Mehrheit der Kinder mit ihren Altersgenossen in anderen Ländern mithalten kann. Am Ende der Grundschulzeit können deutsche Schüler in der Regel ohne gravierende Probleme lesen. Fünf Jahre später ist es um die altersgemäße Lesefähigkeit wesentlich schlechter bestellt, wie die Ergebnisse der Pisa-Studie belegten. Während die zehnjährigen Schüler in Deutschland noch über dem internationalen Schnitt liegen, fallen die Fünfzehnjährigen deutlich darunter. Zugespitzt formuliert: Im Vergleich mit anderen Nationen scheinen deutsche Kinder von Schuljahr zu Schuljahr dümmer zu werden, wird das Schulsystem von Stufe zu Stufe ungerechter.

Somit wirft die Iglu-Studie nicht nur ein Schlaglicht auf die Grundschule, das Stiefkind der Bildungsdebatte. Diese verdient weit mehr Aufmerksamkeit, als ihr bislang zukommt. Zugleich macht die Grundschullese-Untersuchung deutlich, wo die Ursachen der deutschen Bildungskatastrophe in erster Linie zu suchen sind: beim Unterricht der weiterführenden Schulen sowie beim gegliederten Schulwesen nach Klasse vier, wenn Eltern und Lehrer über die Lebenschancen der zehnjährigen Kinder entscheiden und sie in Haupt-, Realschüler und Gymnasiasten einteilen.

Keine andere Nation sortiert ihre Schüler so früh und streng. Doch je früher die Auslese, je hierarchischer die Schulstruktur, desto stärker schlägt sich die soziale Herkunft eines Schülers auf seine Leistungen nieder – und desto schwächer ist die Gesamtleistung des Systems.

Bildungsforscher haben dafür den Begriff der „differenziellen Lernmilieus“ geprägt. Je nach Schulart genießen Schüler unterschiedliche Förderung, und zwar im negativen Sinn. Man kann das an zwei Schülern mit gleichen Fähigkeiten beobachten: Der eine wechselt aufs Gymnasium, den anderen verschlägt es auf die Hauptschule. Am Ende der neunten Klasse wird der Gymnasiast wesentlich besser lesen und rechnen als der Hauptschüler – trotz identischer Ausgangsbedingungen.

Für diese Fehllenkung der Begabungen zeichnet auch die Grundschule verantwortlich. Ihre Lehrer sollen nach vier Jahren vorhersagen, wie sich ein Kind künftig entwickelt. Bei ihrem Urteil lassen sie sich nicht allein von den Fähigkeiten des Schülers leiten, sondern ebenso von seiner Herkunft. So zeigte die Hamburger Lernstudie Lau, dass ein Schüler mit einem Vater ohne Schulabschluss wesentlich bessere Noten vorweisen muss, um vom Lehrer eine Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen, als Mitschüler mit einem Vater, der das Abitur gemacht hat. Länder, in denen die Schüler mindestens bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen, haben diese Probleme nicht und schneiden in internationalen Leistungstests hervorragend ab. In Schweden zum Beispiel, dem von Iglu bestplatzierten Land, gibt es bis Klasse acht noch nicht einmal Noten. Dort können Lehrer keinen Schüler an eine Real-, Haupt- oder Sonderschule abgeben. Doch auch eine Nation wie Holland belegt einen Spitzenplatz, obwohl es hier, ebenso wie Deutschland, ein dreigliedriges Schulsystem gibt. Was ist das Erfolgsrezept der Niederländer? Sie schulen bereits mit vier Jahren ein. Zudem verbinden sie regelmäßige Leistungstests mit gezielter Hilfe und widmen sich so dem einzelnen Schüler sehr viel individueller (siehe nebenstehende Seite).

Den internationalen Vorbildern aus Holland oder Schweden kommt in Deutschland die Grundschule noch am nächsten. Der Schulforscher Jürgen Baumert bezeichnet sie deshalb als „die modernste Schulform“. Ihr Unterricht ist abwechslungsreicher geworden; ihre Lehrer verstehen sich stärker als Pädagogen und weniger als Fachvermittler für Deutsch, Mathematik oder Englisch. Außerdem haben sie besser als ihre Kollegen gelernt, das Lernprogramm auf unterschiedliche Schüler zuzuschneiden und – es lebe die Kuschelpädagogik! – stärker zu fördern, statt auszulesen.

Dieser Trend sollte sich durchsetzen. Die Realität aber sieht leider anders
aus: Nordrhein-Westfalen hat die Grundschullehrerausbildung abgeschafft und den Haupt- und Realschulen zugeschlagen. In Niedersachsen feiert es die neue CDU-Regierung als Großtat, dass die Kinder – entgegen allen internationalen Studien – nun wieder streng nach der vierten Klasse ausgesiebt werden. Nicht nur deutsche Schüler haben Leseschwächen, auch deutsche Politiker.




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