http://www.zeit.de/2003/15/B-Holland_1

Früher Start zur Weltspitze (2)

Bis dahin waren – ähnlich wie in Deutschland heute – beide Institutionen voneinander getrennt. Das systematische Lernen begann erst mit sechs oder sieben Jahren. Auch in Holland entschieden so genannte Schulreifetests, ob ein Kind weit genug ist, um der Schule zu genügen. Dennoch blieben bereits in der Grundschule viele Kinder sitzen, ohne dass sie später davon profitiert hätten. „Sind die Kinder falsch für die Schule, oder haben wir die falsche Schule für die Kinder?“, fragten sich die Reformer Anfang der achtziger Jahre, erinnert sich Jef van Kuyk. Als Antwort erfand man die achtjährige Grundschule. Man löste Vorschulen sowie einen Teil der Kindergärten auf und vergrößerte die Schulen. Erzieherinnen wurden nachgeschult und besser bezahlt. Die Grundschullehrerausbildung nahm das frühkindliche Lernen in den Blick.

Bis heute trifft das anspruchsvolle Lernprogramm für die ersten Jahre allerdings auch auf Skepsis. „Projekte haben wir schon immer gemacht“, lautet eine Kritik. „Überfordert die Kinder nicht“, eine andere. „Zu keinem Zeitpunkt sind Kinder so lernbegierig wie zwischen drei und sechs Jahren“, erwidert Jef van Kuyk. Gerade Kinder aus Familien, in denen nicht Niederländisch gesprochen wird oder Mutter und Vater kaum da sind, brauchten die frühen Anregungen.

Doch die Basisscholen wollen die Eltern nicht aus der Verantwortung für das Lernen ihrer Kinder entlassen. Schon die jüngsten Schüler bekommen Aufgaben mit nach Hause, um die Lernzeit zu verlängern. Für ausländische Familien liegen Übersetzungen der Lehrmaterialien in vier verschiedenen Sprachen vor. Zweimal die Woche erhalten besonders gefährdete Schüler aus türkischen und marokkanischen Familien zusätzliche Stunden in ihrer Heimatsprache. Auch dieser Lernstoff bezieht sich direkt auf die regulären Schulstunden – während in Deutschland muttersprachliche und deutsche Lehrer konsequent aneinander vorbeiunterrichten.

Darüber hinaus können Schulen mit hohem Ausländeranteil mit wesentlich mehr Lehrern rechnen als in Deutschland. Den so genannten schwarzen Schulen, in denen der Migrantenanteil mitunter achtzig Prozent übersteigt, finanziert der Staat fast doppelt so viele Pädagogen wie Basisscholen in gut situierten „weißen“ Stadtteilen.

Während Lia Janssen an diesem Morgen die Kinder spielen lässt, gibt eine Kollegin einem schwarzen Jungen aus der Klasse Einzelunterricht. Im vergangenen Jahr ist Said mit seinen Eltern aus Somalia nach Holland gekommen. Drei Kisten liegen jetzt vor ihm, unterschiedlich groß und unterschiedlich schwer. Doch die größte muss nicht die schwerste Kiste sein, lernt er. Da seine Kameraden diese Lektion erst morgen lernen, hat Said ihnen nun etwas voraus. „Das stärkt sein Selbstbewusstsein“, erklärt van Kuyk das so genannte präventive Lernen.

Und dennoch: Die zusätzlichen Lehrer und Extrastunden können den Rückstand der Einwandererkinder auch in Holland nicht völlig wettmachen. Da alle Kinder vom frühen Schulbeginn und der Förderung über die Grundschule hinaus profitieren, bleibt der Abstand groß – wenn auch auf höherem Niveau.

Für solche Erkenntnisse ist in den Niederlanden das Cito zuständig, das nationale Institut für Bildungsstandards, Schulvergleiche und landesweite Prüfungen. Jeder Holländer kennt die Cito-Tests nach der Grundschule sowie die zentralen Abschlussexamen am Ende der Schulzeit. Zudem erhebt das Cito alle fünf Jahre den Leistungsstand der holländischen Grundschüler in verschiedenen Fächern – eine Art nationales Dauer-Pisa.

Schwache Schüler werden im Einzelunterricht gefördert

Mitarbeiter Frank van der Schoot erinnert sich noch gut an die Zeit Ende der sechziger Jahre, als die niederländischen Erziehungswissenschaften ihre Wende vollzogen: weg von der geisteswissenschaftlichen Prägung, wie sie in Deutschland vorherrscht, hin zu einer empirischen Pädagogik angelsächsischer Provenienz, für die das Cito weltweit bekannt ist. Unter anderem haben die Schulforscher aus Arnheim einen großen Teil der Pisa-Aufgaben verfasst.

Darüber hinaus hat das Cito Testaufgaben für die Fächer Niederländisch, Mathematik und Naturwissenschaften entwickelt. Jedes halbe Jahr können die Lehrer damit die Lernfortschritte ihrer Schüler beobachten. Ausgewertet mit einem speziellen Computerprogramm, zeigen bunte Grafiken bereits für die
Fünf- und Sechsjährigen, wie sich einzelne Schüler entwickeln und ob sie über oder unter dem Klassenniveau liegen. Mit den gleichen Daten lassen sich auch die Leistungen von Klassen oder ganzen Schülerjahrgängen analysieren.

„Wir versuchen, jedes Kind so individuell wie möglich zu fördern“, sagt Wim Oltwater, Rektor an der Doktor-Willem-Dreesschool in Arnheim. Dafür seien die halbjährlichen Cito-Tests eine Hilfe. Zum Beleg, dass die Rede ihres Chefs von der „individuellen Förderung“ nicht nur Schulleiterprosa ist, holt Lehrerin José Middelkoop den Ordner ihrer Klasse hervor. Für jedes Kind ist auf einem Blatt notiert, welches Lernziel es im nächsten Halbjahr erreichen kann und ob es besondere Unterstützung benötigt.

In ihrer Klasse können 7 von 21 Schülern dem normalen Unterrichtstempo nicht folgen. Sie brauchen besondere Hilfe, nicht selten andere Aufgaben. Es ist die hohe Kunst des Lehrers, sich in einer Schulstunde unterschiedlichen Lerngruppen zu widmen. Die holländischen Pädagogen erleichtern sich das, indem sie ihre Schüler früh in Selbstständigkeit üben.

Im Sachkundeunterricht der Parallelklasse hat Middelkoops Kollege auf mehreren Tischen kleine Experimente aufgebaut. Jede Viertelstunde rotiert eine Schülergruppe zur nächsten Aufgabe. Der Lehrer setzt sich mal an diesen Tisch, mal an jenen. „Habt ihr gut zusammengearbeitet?“, fragt er am Ende der Stunde. Ein Ja kommt von Tisch A, Nicken an Tisch B, Protest von C. Ein Junge mache nur Quatsch, man komme nicht voran, beschwert sich ein achtjähriges Mädchen.

Einige von Middelkoops Problemkandidaten erhalten zusätzlichen Unterricht im Lesen und Schreiben, während ihre Mitschüler Mathematik büffeln. „Probleme mit der Sprache wirken sich auf alle Fächer aus“, erklärt die Lehrerin. „Deshalb müssen wir die Defizite hier zuerst beheben.“

Für den Förderunterricht hat die Schule eigens eine Lehrerin als Tutorin freigestellt. Dafür nehmen ihre Kollegen in Kauf, in etwas größeren Klassen zu unterrichten. Holländische Schulen können solche Entscheidungen eigenständig fällen. Ob privat verfasst (wie 70 Prozent der Schulen) oder staatlich organisiert – alle besitzen weitgehende Autonomie: Sie dürfen ihre Lehrer selbst einstellen, haben weitgehend freie Hand bei Form und Inhalt des Unterrichts und sind auf keine genormte Stundentafel festgelegt.

Im Gegenzug müssen sie sich kontrollieren lassen: Ihr Leistungsniveau muss gewissen Standards entsprechen; am Ende der Grundschule müssen die Schüler sich einem externen Test stellen; und alle drei Jahre kommt der Inspektor vorbei. Vor vier Wochen war es in der Doktor-Willem-Dreesschool wieder so weit. Allerdings ging es nicht um eine dieser großen Untersuchungen, wo zwei staatliche Kontrolleure mehrere Tage mit Eltern und Schülern sprechen, jeden Lehrer im Unterricht besuchen, die Schulunterlagen durchkämmen und vom Finanzmanagement bis zum pädagogischen Klima alles unter die Lupe nehmen. Nur eine kleine Inspektion zu der Frage stand an, ob sich die Lehrer ausreichend um die Leistungsschwachen bemühen. Beanstandungen gab es wie bei den meisten Aufsichtsvisiten keine.

Gibt es dennoch Probleme, kann sich die Schule an einen der „Educatieve diensten“ wenden. Allein für die Fortbildung und Beratung von Grundschullehrern stehen insgesamt 2500 Mitarbeiter – Pädagogen, Psychologen, Bibliothekare – bereit. Eine „einmalige Architektur der Hilfe und Unterstützung für Lehrer, die in Deutschland ihresgleichen sucht“, sagt der Dortmunder Erziehungswissenschaftler Hans-Günter Rolff.

Vor Kontrollen fürchten sich niederländische Lehrer nicht

Doch was kann der Inspektor an einem Tag schon sehen? Lassen sich die Schwachpunkte nicht leicht verstecken? Eine sehr deutsche Frage, scheint es. „Wieso verstecken?“, fragt einer aus der Runde. „Die Inspektion soll uns doch helfen, besser zu werden.“ Die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Andrea Sparka, die eine Doktorarbeit über das holländische Schulwesen verfasst, war erstaunt über den „hohen Akzeptanzgrad“ der Kollegien gegenüber dem Inspektorat und spricht von einer „gelassenen Professionalität “ der holländischen Lehrer.

Das Ergebnis der Schulbesuche kann vier Wochen später jedermann im Internet nachlesen. Diese Offenheit sorgte in den vergangenen Jahren für zunehmenden Unmut. Denn die Inspektoren veröffentlichten in ihren Schulberichten auch Durchschnittsnoten der Abschlusstests – und findige Journalisten bastelten daraus ein nationales Ranking.

Dabei sind die Endexamen eigentlich nicht dafür gedacht, Schulen zu testen. Sie sollen den Lehrern und Eltern eine Hilfe bei der Entscheidung bieten, welchen Schulweg das Kind in Zukunft nehmen soll – und subjektive Fehlurteile vermeiden. In Zukunft will das Cito deshalb die Daten nur noch den Schulen zur Verfügung stellen. „Sie sollen selbst entscheiden, was sie mit ihnen anfangen“, sagt Frank van der Schoot. Völlig ausschließen ließe sich der Missbrauch jedoch niemals. Es gab schon Schulleiter, die schwächeren Schülern rieten, an den Test-Tagen lieber krank zu werden, um den Schnitt der Schule nicht zu verderben.


(c) DIE ZEIT 03.04.2003 Nr.15




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