Frankfurter Rundschau 07 04 03
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Der Lehrer L. (1)
Pisa-Erschütterungen: Die Magie hinter der Pädagogik
Von Frank Keil
Während immer neue Ergebnisse von Lese- und Wissenstests kursieren, ist es Zeit, eine Geschichte zu erzählen, denn wenn es um Erziehung gehen soll - und Bildung ist ein Teil derselben - dann kommt man um's Erzählen nicht herum, denn es sorgt dafür, dass unter dem angeblich Grundsätzlichen das Kellergeschoss der Erfahrung sichtbar wird.
Es ist die von Herrn L., einem Lehrer, den es wirklich gegeben hat; mit einer Kriegsverletzung, und ehrenamtlicher Bürgermeister einer ländlichen Gemeinde war er auch. Er war old school, autoritär und gefürchtet, zuweilen gehasst, weil er brüllte wie ein Tier, wenn ihm etwas nicht passte. Mathe, dazu Physik und trinkfest war er, denn das musste er sein, wenn er den Bauern ihr Weideland in Bauland umzuwandeln trachtete. Manchmal wusste auch seine Frau tagelang nicht, wo er steckte, lag oder sich herumtrieb. Sorgen machte sie sich keine, und irgendein Lehrer gab halbgare Vertretungsstunden. Und es begab sich, dass während einer Elternversammlung die Eltern durchdrehten und augenblicklich eine - heute würde man sagen - Kehrtwende im Unterricht verlangten: Alles müsse anders werden an dieser Schule; sofort und gleich. Denn nebenan in einer anderen Schule, bei anderen Lehrern, dort würden deren Schüler wahrhaft etwas lernen, was man ihnen hier dank der Rücksicht auf die Schüler verweigere, deren Leistungen für einen weiteren Verbleib einfach nicht ausreichen würden - besonders in Mathematik und Physik. Künftige Nobelpreisträger wüchsen dort heran, während hier - und fast spuckten sie auf den Boden - der Schlendrian des sozialen Anspruchs und der ermüdenden Warmherzigkeit für vernichtende Ergebnisse sorgen würde. Sie hatten ein Beweisstück mit, ein Mathematikbuch: Dort sei man ob des härteren Durchgreifens schon auf Seite 38 angekommen, hier habe man gerade mal die Seite 16 umgeblättert.
Zufällig war Herr L. telefonisch erreichbar, und er ließ es sich nicht nehmen, sich ins Auto zu setzen und sich jenen schäumenden Eltern zu stellen, die den Ausschluss der von ihnen für am falschen Ort befindlich Erklärten verlangten. Es war nicht viel, was er sagte. Nur dass, so lange er Lehrer sei, er sich stets auch um den schwächsten Schüler bemühen werde, und wenn man diesen aussortieren wolle, dann nur über seine Leiche. Das sei gemeint wie gesagt, sprach der hinkende und stets nach Schnaps und Tabak riechende Mann mit donnernder Stimme. Und die ein, zwei schmalbrüstigen Intellektuellen, die sich zuvor in bester Absicht bis ins Detail über Wirkung und Wechselwirkung von sozialer Herkunft und Prägung, von Anlage und Sozialisation ergangen hatten, sie mussten einsehen, dass nicht ihr Wust aus Deutungen und Ableitungen, sondern allein des Lehrer L.s schlichte Haltung es vermochte, dass Ruhe einkehrte.
Das ist es auch, worum es in der gesamten immer wieder auf- und abschwellenden Debatte um PISA und die Folgen geht: Um die magischen Momente, die man sich vom Wirken eines Pädagogen erhofft. Dass der kommt und macht, dass die Schüler unbehelligt und geschützt ins Leben treten können, wie wenn der Schlüsseldienst die aus Versehen zugeschlagene Tür wie von Geisterhand zu öffnen versteht. Hinter Fragebögen, Statistiken, Presseverlautbarungen und sich anschließenden Reisen ins wunderschöne Finnland zeigt sich so der Wunsch nach etwas Eindeutigem, Heilem, und das auf einem Feld, das sonst per se als das Gebiet des Schmerzes, der Qual und der Enttäuschung gilt: der Schule.
Da gibt es die Lehrerin, von der es heißt, sie müsse nur leicht die Hand heben und sofort könne man eine Stecknadel fallen hören. Da gibt es den bärtigen Lehrer und Vorsteher einer Förderklasse, der jugendliche Rabauken, denen man nie und nimmer im Dunkeln begegnen möchte, wieder auf die Spur setzt. Mythische Figuren, denen mancher nacheifert und versucht, ihr so selbstverständliches Vermögen ins Systematische, Abrufbare zu erheben: So wenn der Universitätsprofessor - gleich welcher Fakultät - zum Studienantritt drei Bücher in den Hörsaal wirft: Wer diese Bücher gelesen und verstanden hätte, könne sich unverzüglich bei ihm zur Prüfung anmelden und sich jenen Umweg über Seminare, Semester und Zwischenprüfungen ersparen.
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