presse 12 04 03

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Streit um Stundenkürzungen

Österreichs Bildungsstandard wird absacken. Sagen die Lehrer. Stimmt nicht, zwei Unterrichtsstunden weniger pro Woche machen's nicht aus. Sagt das Ministerium.

Von Erich Witzmann

Kurz, nur für anderthalb Minuten trat der Direktor vor die Schüler, um, wie er sagt, ein "drastisches Beispiel" vor Augen zu führen. "Wenn man von zehn Fingern, die uns der liebe Gott geschenkt hat, einen abhackt", beginnt Michael Jahn, Schulleiter des Wiener Oberstufenrealgymnasiums Hegelgasse 12. Dieses Bild vergleicht Jahn, der sich als Privatmann und nicht als weisungsgebundener Direktor deklariert, mit der Stundenkürzung. Natürlich könne man auch mit neun Fingern weiterleben, aber . . .

Die von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer angekündigte Stundenreduktion hat - wieder einmal - die Stimmung an den Schulen zum Sieden gebracht. Es gab den Aktionstag mit den streikähnlichen Dienststellenversammlungen, hunderte Protestresolutionen wurden verfasst und an das Ministerium sowie an die Redaktionen der Medien versandt. Die Stellungnahmen der Schulen zur Gehrer-Initiative fielen durchwegs negativ aus, jene einzelner Eltern überwiegend negativ, jene "normaler" Staatsbürger überwiegend positiv.

In der Hegelgasse 12 wurden am Tag nach dem freien Vormittag jeweils die Schüler eines Jahrgangs in den Festsaal gerufen. Die Elternvertreterin informierte mittels einer Power-Point-Projektion aus ihrer Sicht die Schüler. "Wir tragen den Lehrerprotest in eurem Interesse voll mit", beginnt sie. Dann fallen Feststellungen wie "die Anforderungen bleiben völlig gleich, ihr müsst das Ziel nur in kürzerer Zeit erreichen"; "den Rest, den ihr nicht verstanden habt, schaut's euch zu Hause an"; "die Kürzung unserer Schwerpunkte ist unüberlegt, um es nicht schwachsinnig zu nennen"; "ihr braucht's mehr Nachhilfe". Zustimmende Sätze der Lehrervertreterin, ebenfalls des Schulsprechers, dann das Finger-Beispiel des Direktors. Nach 15 Minuten werden die Schüler entlassen.

Im Bildungsministerium greift man sich an den Kopf. Hat man schon bei der sachlichen Diskussion genug Erklärungsbedarf, so verschlägt es dem Schul-Sektionschef Heinz Gruber bei derartigen Argumenten die Rede. "Da haben die Damen und Herren das Schulunterrichtsgesetz nicht gelesen", sagt dann Gruber. Denn dort stehe "klipp und klar", dass nur jener Stoff zur Hausübung aufgegeben werden dürfe, der sich auf einen in der Schule durchgenommenen Stoff bezieht. Und außerdem: Zwei Drittel der Unterrichtsmaterie seien Kern-, ein Drittel Erweiterungsstoff. Ein Lehrer müsse also nur auf einen kleinen Teil des Erweiterungsstoffes verzichten - und die Belastung der Schüler werde tatsächlich reduziert. "Manipulation und Panikmache", so Grubers Kommentar zur Hegelgasse 12.

Aber so wie in dieser einen Schule ging es an vielen anderen zu. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Wiener HTL Spengergasse. Die mehr als 1500 Tagesschüler versäumten keine Unterrichtsminute. Die (nur) zweistündige Dienstversammlung wurde auf 19 Uhr angesetzt, da das Problem vor allem die etwa 700 Abendschüler betreffe. Direktor Wolfgang Hickel: "In der Abend-HTL hat man nur 23 Wochenstunden und diese nur vier statt der üblichen fünf Jahre." Zum Vergleich: In der fünfjährigen Tages-HTL hat man 39 Stunden oder 35 im Informatik-Zweig.

Hickel, der sich durchaus als "Streikbrecher" versteht, sucht den Dialog - und findet diesen im Bildungsministerium auch. Die Situation an den Abendschulen könnte man nach dem Begutachtungsverfahren überdenken, heißt es am Minoritenplatz. Wahrscheinlich wird man in diesem Schulzweig nur eine statt zwei Stunden kürzen.

Soweit das Hick-Hack zwischen Schulen und Ministerium, bei dem sich die beiden Seiten nur noch tiefer einzementieren. Eines bleibt freilich
unbestritten: Fächer werden gekürzt, die Lehrinhalte eingeschränkt. Ministerin Gehrer appelliert an die Schulen, die Reduktion um bis zu zwei Wochenstunden selbst vorzunehmen. Ausgenommen sollen Religion und Turnen sein, alle anderen schulautonom vorgenommenen Kürzungen sollen erlaubt sein. Aber so gut wie alle Lehrkörper verweigern das. Zum Teil ist dies
verständlich: Der Lateiner will nicht gegen den Physiker, der Historiker nicht gegen den Mathematiker um eine Stunde mehr oder weniger rittern. Der Kampf im Konferenzzimmer wird vermieden. Und auch der Kampf um die besseren Argumente.

Also hat das Ministerium eine Stundentafeländerung ausgearbeitet, die dann, wenn die Schule selbst nichts unternimmt, schlagend wird. Vorerst ist diese Verordnung bis zum 25. April in Begutachtung. In der AHS-Oberstufe sollen beispielsweise pro Jahr zwei Stunden gekürzt werden. Hier sieht das Ministerium vor: im Gymnasium je eine Stunde weniger Latein, Griechisch bzw. zweite lebende Fremdsprache, Geschichte, Physik, Bildnerische Erziehung bzw. Musik, Geografie und zwei Stunden aus den Wahlpflichtfächern; im Realgymnasium je eine Stunde zweite lebende Fremdsprache bzw. Latein, Geschichte, Physik, Bildnerische Erziehung bzw. Musik, Mathematik und zwei Stunden aus den Wahlpflichtfächern; im Wirtschaftskundlichen Realgymnasium wie im RG, statt Mathematik allerdings eine Stunde Psychologie/Philosophie. Natürlich hat jeder Fachvertreter seine eigenen gewichtigen Argumente. Die Wirtschaftskammer begrüßt die Stundenkürzung, will dies aber für das Wirtschaftswissen im Geografie-Lehrplan ausschließen. Latein wurde schon in früheren Jahren angezapft, die Physiker erhielten ebenso wie die Musiker von den Universitäten Schützenhilfe. Wobei auch dies nicht immer seriös abläuft. Die Musik-Uni Mozarteum zeigt im TV einen Geige spielenden Buben und suggeriert (mit Hilfe eines ORF-Redakteurs), dass im öffentlichen Schulwesen auch tatsächlich ein Musikinstrument gelehrt wird, und dies nun - im Musikland Österreich! - bald der Vergangenheit angehören wird. Nur: In der normalen Volksschule, Hauptschule, AHS und BHS wird nicht Geige unterrichtet.

Durchgesetzt hat sich tatsächlich die Sportlobby und der Religionsunterricht. Im zweiten Fall wird auf den Schulvertrag mit dem Heiligen Stuhl aus dem Jahr 1962 (oft als Konkordat bezeichnet) und das Religionsunterrichtsgesetz 1949 (für die anderen anerkannten Konfessionen) verwiesen. Im Schulvertrag wird festgehalten, dass eine Änderung der damals bestehenden Stundenzahl nur einvernehmlich erfolgen könnte. Damals, 1962, gab es wie heute zwei Religionsstunden pro Woche. "Eine Änderung im Einvernehmen ist nicht beabsichtigt", sagt der zuständige Ministerialrat Werner Jisa. Obwohl es manchmal auch nur eine Wochenstunde ist (in Abendschulen, bei weniger als zehn Schülern) und diese Reduktion von der Bischofskonferenz auch akzeptiert wird, will man hier nichts machen.

Von der ursprünglichen Intention Elisabeth Gehrers, nämlich die Schüler zu entlasten, wird derzeit kaum gesprochen. Die Ministerin verwies auf eine OECD-Studie, derzufolge Österreichs Schüler punkto Unterrichtszeit an der Spitze liegen: mit 1148 Stunden pro Jahr. In Deutschland sind es 903 Stunden pro Jahr, in Finnland 808, in Schweden 741. Der Vergleich stimme nicht, sagen die Lehrer, das Ministerium habe unrichtige Daten an die OECD geliefert.

Die Gehrer-Seite verweist aber auch auf die Arbeitszeit der Schüler. Diese liegt im Unterricht und bei Hausarbeiten deutlich über jener ihrer Lehrer oder den Arbeitnehmern in anderen Berufsgruppen. Auch hier folgte der
Konter: Warum habe dann die Ministerin nicht schon früher die Stundenzahl gesenkt? Warum hat sie sich noch im Vorjahr für die derzeitigen Stundentafeln ausgesprochen? Weil, so die Antwort aus den Schulen - und aus dem Oppositionsparteien -, es gar nicht um die Entlastung der Schüler, sondern um die Entlastung des Budgets geht. Weniger Unterricht bedeutet
(unbestritten) weniger Lehrer und damit weniger Personalkosten.

Und die Schüler? In ersten Reaktionen zeigten sie sich nach der Gehrer-Ankündigung am 5. März hocherfreut. Dann erst kam die Orientierung je nach der politischen Parteipräferenz. Die VP-orientierte Schülerunion steht stramm hinter ihrer Ministerin. Die SP-nahe Aktion kritischer Schüler hat in den ersten Tagen Gehrer Beifall gezollt, bis sie auf den Gegenkurs der SPÖ (die sich auch von der Befürwortung zur Ablehnung gewendet hat) eingeschwenkt ist. Dabei wird geflissentlich vergessen, dass gewerkschaftlich organisierte Schüler vor drei Jahren für eine kürzere Arbeitszeit auf die Straße gegangen sind - vor das Ministerium am Minoritenplatz, wo in dieser Woche Schüler das Gegenteil gefordert hat. Gehrer hat übrigens die Schüleraktion des Jahres 1999 als "berechtigtes Anliegen" bezeichnet.

Das Argument bezüglich der überlangen Wochenarbeitszeit der Schüler würde aber doch eine vertiefende Diskussion verdienen. Denn dieses Faktum kann man tatsächlich nicht wegdiskutieren. Es sei denn, es wird eine Variante
erörtert: Man kürzt die neun Wochen Sommerferien auf sieben, die fünf schulautonomen Tage auf drei. Diese zweieinhalb zusätzlichen Wochen entsprechen ziemlich punktgenau den angepeilten zwei Wochenstunden. Das bedeutet, dass man die Schüler tatsächlich vom Wochenstress entlasten könnte und dabei keine einzige Stunde kürzen muss.

Wer eine derartige Lösung aber nur im Entferntesten erwägt, hat freilich keine Ahnung von der österreichischen Mentalität. Denn erstens müssten die (jetzt heftig protestierenden) Lehrergewerkschafter ihren Kollegen eine Kürzung ihrer Ferien und freien Tage zumuten. Also von derzeit 14 auf nur noch elfeinhalb Wochen. Und zweitens wird bei dieser Variante kein einziger Lehrer-Planposten eingespart. Und das würde den Finanzminister treffen. [*]





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