Wenn ich die sechs Kriterien des Gerechten Krieges auf die Bombardierung Jugoslawiens 1999 anwende (noch dazu mit der Strenge, mit der der Autor den Irakkrieg 2003 kommentiert: Verdacht von Hegemonialbestrebungen unterminiert das Kriterium "recta intentio") - und mir vergegenwärtige, daß diese sechs Kriterien KUMULATIV erfüllt sein müssen, um einen Krieg zu rechtfertigen - dann muß ich zu dem Schluß kommen, daß Jugoslawien 1999 ein ungerechter Krieg war, weil fast alle Kriterien verfehlt wurden.

Die Kritiker von Irak 2003 sollten daher ehrlich genug sein, zuzugeben, daß nach ihren Maßstäben Milosevic wieder in seine Funktion eingesetzt gehörte.

Erich Wallner





-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: owner-lehrerforum@ccc.at [mailto:owner-lehrerforum@ccc.at] Im Auftrag von Günter Wittek
Gesendet: Dienstag, 15. April 2003 10:29
An: Lehrerforum
Betreff: LF: NZZ-Dossier: Gerechter Krieg?



23. März 2003, NZZ am Sonntag
Gerechter Krieg?

Diesen [ungekürzten] Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
http://www.nzz.ch/dossiers//2003.03.23-hg-article8R1FQ.html


Ein verstaubter Begriff wird aufgefrischt: der Begriff des gerechten Krieges. Unmittelbarer Anlass ist der Krieg gegen den Irak. Kaum diskutiert werden bei der Verwendung des neu-alten Schlagworts die alten Kriterien. Aus der Geschichte des politischen Denkens lassen sich sechs Voraussetzungen des gerechten Krieges destillieren. Von Alois Riklin

Befürworter und Gegner des Irak-Krieges argumentieren mit dem Topos des «gerechten Krieges». Der Begriff war seit langem ausser Gebrauch. Aufgekommen war er im Mittelalter. Es waren vor allem Theologen, welche die Theorie des gerechten Krieges entwickelten. Die bekanntesten Namen in der Ahnengalerie sind Augustinus, Thomas von Aquin, Vitoria und Suarez. Trotz Ausläufern in den Werken der Völkerrechtler Gentili, Grotius und Vattel geriet die Theorie in der Neuzeit ausser Kurs. Weil der Krieg als legitimes Mittel der Politik souveräner Staaten betrachtet wurde, verlagerte sich das Völkerrecht vom «Recht zum Krieg» (ius ad bellum) auf das «Recht im Krieg» (ius in bello). Wenn der Krieg schon nicht vermeidbar schien, sollte er wenigstens gemässigt werden. Diese Entwicklung gipfelte in den Haager Verträgen von 1907 sowie den Genfer Konventionen von 1949 und 1977. Zugleich hat sich im 20. Jahrhundert das klassische Kriegsvölkerrecht durch das absolute Verbot des Angriffskrieges grundlegend gewandelt.

Wenn nun die Theorie des gerechten Krieges wieder entdeckt wird, dürfte es nicht abwegig sein, die alten Kriterien wachzurufen und sie auf den Irak-Krieg anzuwenden.

1. Iusta causa
Das erste Kriterium ist eine gerechte Ursache. Als gerecht gilt nach heutigem Völkerrecht die Selbstverteidigung eines Staates oder Bündnisses gegen einen bewaffneten Angriff gemäss Art. 51 der UN-Charta. Darin eingeschlossen ist der Präemptivschlag, das heisst die vorbeugende Verteidigung gegen eine unmittelbar bevorstehende Aggression (Beispiel: Sechstagekrieg Israels 1967). Zulässig sind ferner vom UN-Sicherheitsrat genehmigte militärische Massnahmen gegen eine Friedensbedrohung, einen Friedensbruch oder eine Angriffshandlung gemäss Art. 39 und 42 der UN-Charta (Beispiel: Golfkrieg 1991).

Umstritten ist die sogenannte humanitäre Intervention ohne Uno-Mandat
(Beispiel:
Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999). Unzulässig ist nach geltendem Völkerrecht der Präventivkrieg eines Staates oder einer Koalition ohne Uno-Mandat gegen eine nicht unmittelbar bevorstehende Aggression, erst recht dann, wenn es sich um eine bloss vermutete oder im Entstehen begriffene Bedrohung handelt
(Beispiel: Irak-Krieg 2003).

Im neuen sicherheitspolitischen Konzept vom September 2002 behält sich die Bush-Administration den Präemptivkrieg als mögliche Option vor. Bezeichnenderweise wird keine Unterscheidung gemacht zwischen dem völkerrechtskonformen, unilateralen Präemptivkrieg und dem völkerrechtswidrigen, unilateralen Präventivkrieg. Diese Verwischung muss Absicht sein; denn mindestens die Sicherheitsberaterin kennt die Begriffe der strategischen Wörterbücher.

2. Recta intentio
Zweites Kriterium ist die ehrliche Absicht. Ehrlich ist die Absicht dann, wenn es tatsächlich um die Bewältigung einer Bedrohung des Friedens oder die Abwehr einer Aggression geht, mit dem Ziel, das Leben und die Unversehrtheit unschuldiger Menschen zu schützen, die Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit eines Staates zu sichern oder wiederherzustellen, letztlich die Existenz von Staat und Volk zu gewährleisten. Zu diesem Zweck ist das Vernichten oder Verhindern von Massenvernichtungswaffen in den Händen eines Despoten legitim, zumal wenn er bereits in der Vergangenheit nicht davor zurückschreckte, sie gegen ein anderes Land und gegen das eigene Volk einzusetzen.

Unehrlich wäre, wenn im Fall des Irak-Krieges insgeheim hegemoniale und wirtschaftliche Interessen im Spiel wären. Nicht wenige Kriegsgegner behaupten, die wahre Absicht sei der Zugriff auf das Erdöl. Das ist bestimmt zu monokausal. Aber es wäre naiv anzunehmen, dass die amerikanischen Ölinteressen im geopolitischen Gesamtkalkül der Bush-Administration überhaupt keine oder bloss eine marginale Rolle spielen würden. Immerhin sitzt der Irak auf den zweitgrössten Erdölreserven der Erde. Je politisch unsicherer der grösste Erdöl-Eigner Saudiarabien, umso wichtiger der zweitgrösste. Nicht zu vergessen, dass George W. Bush mit massgeblicher finanzieller Unterstützung der Energieindustrie zum Präsidenten gewählt worden ist, und dies gewiss nicht aus selbstlosen Motiven. Nicht zu vergessen auch, dass nicht nur der Präsident, sondern auch der Vizepräsident, der Verteidigungsminister, die Sicherheitsberaterin und der künftige zivile Statthalter in Bagdad, das heisst die engagiertesten Antreiber des Irak-Krieges, mit der Erdölindustrie verbunden sind. Wer wagte zu behaupten, der Golfkrieg von 1991 hätte auch stattgefunden, wenn es in Kuwait kein Erdöl gegeben hätte? Das Wort von der Befreiung Kuwaits ist ein Euphemismus. Befreit wurde Kuwait von der irakischen Besatzung - ja, nicht aber von der hausgemachten und US-gestützten Oligarchie.

3. Proportionalitas
Drittes Kriterium ist die Verhältnismässigkeit.
[ .... ]

4. Legitima auctoritas
Viertes Kriterium ist der Kriegsentscheid einer dazu bevollmächtigten Instanz. Solange kein Staat angegriffen oder von einer Aggression unmittelbar bedroht ist, so lange ist der UN-Sicherheitsrat die einzig legitimierte Autorität, militärische Massnahmen zu beschliessen. Die Resolution 1441 des Sicherheitsrats vom 8. November 2002 gewährte keinen Freipass zum Präventivkrieg. [ .... ]

5. Ultima ratio
Fünftes Kriterium ist, dass der Krieg das letzte Mittel ist, um einer Gefahr zu begegnen. Der Einsatz von Waffengewalt lässt sich erst dann rechtfertigen, wenn alle nichtkriegerischen Mittel ausgeschöpft sind. Das war nicht der Fall. [ .... ]

6. Ius in bello
Sechstes Kriterium: Auch in einem «gerechten Krieg» müssen die Regeln des humanitären Völkerrechts eingehalten werden. [ .... ]


Die sechs Kriterien müssen kumulativ erfüllt sein, um einen Krieg rechtfertigen zu können. Ein vom UN- Sicherheitsrat nicht autorisierter Präventivkrieg ist völkerrechtswidrig. Auch ein vom UN-Sicherheitsrat autorisierter Präventivkrieg wäre unter den gegenwärtigen Umständen selbst bei gerechtem Kriegsgrund und ehrlicher Absicht unverhältnismässig und nicht das letzte Mittel gewesen. [ .... ] Man braucht weder Pazifist noch Weichling noch Saddam-Verharmloser noch Antiamerikaner zu sein, um diesen Krieg als ungerecht zu qualifizieren.


Alois Riklin, 67, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen. In jüngster Zeit widmete er sich zur Hauptsache der Geschichte des politischen Denkens. Beim vorliegenden Text handelt es sich um die aktualisierte Fassung eines Aufsatzes aus der Märznummer der Schweizer Monatshefte.






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