SZ 19 04 03

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Debatten ohne Ende

Fast ein Jahr nach dem Amoklauf in Erfurt diskutierten Experten über die immer gleichen Probleme des Schulsystems

Robert Steinhäuser war ein unscheinbarer junger Mann, bis er am 26.April 2002 mit einer Pumpgun die Abiturprüfungen im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sprengte, 17 Menschen tötete und anschließend sich selbst richtete. Die Bluttat war ein Racheakt. Der 19-Jährige war acht Wochen zuvor von der Schule geflogen. Ein Jahr danach ist es für Politiker und Pädagogen immer noch eine außergewöhnliche Tat: „Steinhäuser hatte eine psychopathologische Komponente.“ Er sei nicht mit normalen Schülern über einen Kamm zu scheren, erklärte Hans-Robert Metelmann, Bildungsminister in Mecklenburg-Vorpommern, bei einer Debatte des Münchner Stadtforums. „Die Gewalt an Schulen hat nicht zugenommen“, meinte auch Albin Dannhäuser, Vorsitzender des Bayerischen
Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). Schulen seien keine Kampfstätten, wo Kinder ständig aufeinander einschlügen.

Er war ein Einzelgänger und liebte Waffen. Steinhäuser zog sich stundenlang in sein Zimmer zurück, um brutale Videos anzuschauen und sich in gewaltverherrlichende Computerspiele wie „Counter Strike“ zu vertiefen. Hatten sie Einfluss auf sein brutales Handeln? Und reagierten Politik und Schulen nach dem Amoklauf darauf? „Die Politik hat gehandelt“, sagte Dannhäuser. Nach Erfurt hätten sich Fernsehsender verpflichtet, zu bestimmten Uhrzeiten weniger physische Gewalt auszustrahlen. Auch sei nach dem neuen Jugendschutzgesetz die Herausgabe von Videos erschwert. Im Klassenzimmer spielt die Medienpädagogik jedoch immer noch eine untergeordnete Rolle. „Medien sind kein Thema“, sagte Camilla Kritzler, Schülerin des Münchner Albert-Einstein-Gymnasiums. „Die Lehrer waren von diesen Problemen völlig überrascht“, bestätigte Uwe Carsten Bremhorst. Der Gründer des Münchner Nachhilfeinstituts UCB, forderte deshalb eine bessere, nämlich praxisnahe Ausbildung der Pädagogen.

Steinhäuser sei faul und desinteressiert gewesen, erzählten Mitschüler nach der Tat. Häufig schwänzte er den Unterricht und fälschte dazu Atteste. Zum letzten Mal im Februar. Lehrer zogen die letzte Konsequenz und verwiesen ihn von der Schule. Die Eltern wussten von nichts. Denn Steinhäuser war volljährig. „In Deutschland gilt dann der Datenschutz. Die Schule darf sich nicht mehr einmischen“, sagte BLLV-Chef Dannhäuser. Generell kritisierte er jedoch das Vorgehen, Störenfriede von der Schule zu werfen. „Wir dürfen sie nicht aufgeben.“ Auch Minister Metelmann sagte: „Es geht nicht, dass wir uns nicht um die Problemfälle kümmern.“ Alternativ forderte er Eltern und Lehrer zu einer engeren Zusammenarbeit auf. Für Camilla Kritzler gilt das auch für das Verhältnis von Schülern und Lehrern. „In Deutschland fluchen Schüler über Lehrer.“ In Pisa-Land, Finnland, wo sie zwei Monate lang eine Ganztagsschule besuchte, sei der Kontakt besser gewesen: „Dort gibt es keine Machtspiele. Lehrer werden als Partner akzeptiert.“

Isoliert, verletzt und ohne Chance auf einen Abschluss – war Steinhäuser also nicht nur Täter, sondern auch ein Opfer des deutschen Schulsystems? „Unser Schulsystem ist rigoros zum Zweck des Notenerwerbs instrumentalisiert “, kritisierte Dannhäuser. Deutscher Schul-Standard sei: Stoff aufnehmen, speichern, wiedergeben und abhaken. Es sei kein Platz für nachhaltiges Lernen. „Die deutsche Schule ist ein rigides Auslesesystem.“ Der Erziehungsauftrag sei kaum wahrzunehmen. Man bräuchte dazu eine längere gemeinsame Schulzeit.

Den positiven Beweis lieferte wiederum Finnland: „Jugendliche haben dort länger Zeit, sich zu entwickeln“, pries Schülerin Kritzler die neunjährige Gesamtschule an. Bremhorst protestierte dagegen, erneut die Systemfrage zu diskutieren. „Man muss vor allem den Lehrer auf die neuen Anforderungen richtig vorbereiten“, betonte er wiederholt die Notwendigkeit einer modernen Lehrerausbildung. Man bräuchte Pädagogen, die eben in der Lage seien, in der vierten Klasse Grundschule Schülern die richtige Übertrittsempfehlung zu geben. Auch appellierte er an die die deutschen Kultusbehörden, endlich schlanke Lehrpläne zu formulieren.

Zuletzt waren es dann eben doch längst bekannte Forderungen, auf die man sich einmal wieder verständigte: die bessere Ausbildung der Lehrer zu „Bildungsprofis“ (Bremhorst) und die „demokratische Schule“ (Dannhäuser), in der Eltern, Schüler und Lehrer eine Mitsprache haben. Vielleicht müsste man sie auch einmal umsetzen. Immerhin: In Mecklenburg-Vorpommern soll es ein gemeinsames Gremium – die Schulkonferenz – schon geben. In Bayern sei das, so BLLV-Präsident Albin Dannhäuser, hingegen alles noch äußerst „unterentwickelt. “

CHRISTINE BURTSCHEIDT



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