NZZ 23 04 03 http://www.nzz.ch/2003/04/23/fe/page-article8T1SX.html

Die Guten ins Töpfchen - die Schlechten auch?
Eine Studie provoziert Streit über das deutsche Schulsystem

Wenn man sieht, wie viel Geld im ohnehin schon reichlich asphaltierten Deutschland für Strassenbauprojekte ausgegeben wird, und wenn man gleichzeitig einen Blick auf die vernachlässigten Schulen wirft, dann wird
klar: Deutschlands Politiker lieben Autos mehr als Kinder. Ihr Interesse am schulischen Alltag ist dürftig. Nur wenn es gilt, ideologische Schlachten zu schlagen und die grosse Systemfrage zu stellen, lehnen sie sich aus dem
Fenster: Will man, distinktionsbewusst, die klassisch dreigeteilte Sekundarstufe oder, progressiv-egalitaristisch, die Gesamtschule? Unter dieser Zuspitzung lässt es sich prächtig politisieren. Seit dreissig Jahren schon.

In letzter Zeit allerdings hielten sich die Kombattanten mit Propagandaoffensiven zurück. Die regulären Gesamtschulen haben Grund genug dazu, denn nachdem sie vielerorts zur Restschule für Lernschwache herabgesunken sind, klingt das emanzipatorische Glücksversprechen ihrer Anfänge hohl. Erfolgreiche alternative Gesamtschulen hingegen wie die
Reform- und Waldorfschulen werden in bildungspolitischen Debatten gern einfach ausgeblendet; sie gelten ob ihres akademischen Umfelds oder ihrer privaten Trägerschaft als «elitäre» Sonderfälle. Und wenn sich die Befürworter des geteilten Schulwesens in Traditionalismus üben, so hängt dies ebenfalls nicht an der grossen Glocke: Dass etwa Niedersachsen nach dem Regierungswechsel jetzt die «Orientierungsstufe» für Fünft- und Sechstklässler abschafft und die Grundschüler schon nach vier Jahren auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium verteilen will, war im Wahlkampf kein Thema.

Doch seit einigen Tagen wird wieder die Trommel geschlagen: Die bildungspolitische Linke hat Schützenhilfe bekommen und stellt aufs Neue laut die Systemfrage. Lobredner der Gesamtschule fühlen sich bestätigt, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sieht diese Schulform zu Unrecht als Hort leistungsfeindlicher «Kuschelpädagogik» verunglimpft, und die sozialdemokratische Bildungsministerin Bulmahn fordert die Ausweitung der Grundschule zur achtjährigen Regelschule für alle - erst danach könnte somit eine Auslese der Schüler stattfinden. Seinen Antrieb bezieht der neue Gesamtschulenthusiasmus aus der «Internationalen Grundschul- Lese-Untersuchung», kurz IGLU. Das Unternehmen hat auch einen englischen Namen - «Progress in International Reading Literacy Study» (PIRLS) -, wurde in 35 Staaten durchgeführt und ist eine Art PISA-Test, nur dass hierbei nicht die am Ende der Normalschulzeit stehenden Fünfzehnjährigen, sondern die Viertklässler auf ihre Lesekompetenz hin geprüft wurden. Schweden ging daraus als siegreiche Nation hervor, gefolgt von den Niederlanden und England. Die Schweiz und auch PISA-Sieger Finnland haben nicht teilgenommen. Deutschland, beim Test der Fünfzehnjährigen weit abgeschlagen, kommt diesmal auf einen respektablen elften Platz.

Laut IGLU bieten die deutschen Grundschüler eine relativ homogene Leistung. Unterschiede zwischen Starken und Schwachen halten sich in Grenzen, desgleichen fällt der in Sachen Lesekompetenz übliche Vorsprung der Mädchen vor den Buben eher gering aus. Die Spitzengruppe müsste nach dem Urteil der Experten noch um einiges wachsen, doch immerhin ist sie grösser als der Kreis der Problemfälle. Erfreulich auch, dass die soziale Herkunft nicht so stark wie befürchtet auf die Leistungen durchschlägt. Alles viel besser als die Ergebnisse von PISA. Das ist ein Trost. Aber es ist auch ein Rätsel: Wieso stehen die Grundschüler so gut, die Absolventen der Sekundarstufe aber so schlecht da? Woher kommt der Bruch in der Entwicklung?

Eine Erklärung lautet, es seien wohl Grundschüler auf die falsche weiterführende Schule geschickt worden, die begabungsgerechte Verteilung habe nicht geklappt. Die Anhänger der Gesamtschulen favorisieren eine andere Deutung. Danach erklärt sich die Diskrepanz aus der Vorzüglichkeit der deutschen Grundschule: Sie sei die innovativste Schulform mit dem modernsten Unterricht. Nirgendwo sonst lernten die Kinder so selbstbestimmt, kooperierten die Lehrer so gut. Im Gegensatz zu Gymnasien sei es nicht möglich, schwache Schüler abzuschieben, entsprechend ausgeprägt sei die individuelle Förderung. IGLU beweise für die Grundschulen, dass mit heterogen zusammengesetzten Klassen gute Leistungen möglich seien. Und damit - so die triumphale Folgerung - sei die Studie auch ein Plädoyer für Gesamtschulen. Dieser Schluss ist zwar kühn, aber durchaus logisch. 1920 als Bildungsanstalt für alle Kinder eingeführt, ist die Grundschule in Deutschland schliesslich die Gesamtschule schlechthin: konkurrenzlos und flächendeckend.

Konservative Bildungsfreunde indessen bleiben unbeeindruckt. IGLU hebe die Systemfrage durchaus nicht auf die Tagesordnung, finden sie. Bei den Wissenschaftern liest sich das anders. Sowohl Andreas Schleicher, der PISA für die OECD in Paris konzipiert hat, als auch der IGLU- Experte Wilfried Bos betrachten das frühe Sortieren der Kinder nach Schulformen, wie es das traditionelle dreigeteilte System praktiziert, als den «eigentlichen bildungspolitischen Skandal». Aber selbst sie zögern mit der Empfehlung, die Gesamtschule zur Regelschule zu machen.

Es liesse sich in Deutschland auch nicht durchsetzen. Das Verlangen der Eltern richtet sich, wie das Dortmunder Institut für Schulentwicklung unlängst ermittelte, auf «mehr Leistung und mehr Erziehung». Auf der Sekundarstufe hat die Gesamtschule kaum noch Kredit. Zahlreich sind ihre Mängel, von denen die Aufsplitterung des Klassenverbands in Lerngruppen und Kurse ein besonders gravierender ist. Von einer «Ökologie der Anonymität» spricht der Erziehungswissenschafter Helmut Fend. Sie habe zur Folge, «dass immer mehr Lehrer die Schüler weniger lang kennen und deshalb Fortschritt, Rückschritt oder Stagnation des einzelnen Kindes und Jugendlichen nicht beurteilen können». Opfer der Anonymität sind vor allem jene, denen die Gesamtschule helfen wollte: die Kinder aus den unteren Schichten und aus Familien ohne Bildungshintergrund. Sie müssten, um ihrer hinderlichen Ursprünge ledig zu werden, in der Schule neu sozial beheimatet werden. Dem steht das Vagabundieren durch Leistungsgruppen entgegen.

Gesamtschulen, welche den Klassenverband aufrechterhalten - wäre das die Lösung? So machen es Grundschulen, und offenbar erfolgreich. So machen es auch die Waldorfschulen, deren Konzept Finnland zum Modell seiner Staatsschulen genommen hat. Liebhaber des Gymnasiums zucken vor dieser Option zurück. Das hiesse ja, gute und schlechte Schüler in einen Topf zu stecken. Die Verfechter des nach Hauptschule, Realschule und Gymnasium gegliederten Systems sind der Ansicht, man müsse die Kinder sortieren, denn je homogener die Lerngruppe sei, desto besser sei ihre Leistung. Ein Vorurteil, sagen die Reformpädagogen, vielmehr seien unter nicht getrennten Kindern die Lernanreize grösser. Die Divergenz der Anschauungen in diesem Punkt ist der eigentliche Kern des Systemstreits.

Joachim Güntner




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