Presse 24 04 03 http://www.diepresse.com/default.asp?channel=m&ressort=g&id=350280

Die Ministerin für Bildung

VON PETER STRASSER
----------------------------------------------------------------------------
----

Kennen Sie das, wenn die Uhren zu rasen beginnen, während die Zeit nicht mehr vergeht? Es handelt sich dann um ein Rasen, das stillsteht, verstehen Sie? Man nennt dieses Rasen, mit einem Fachausdruck der Mystiker, Stupor ecstaticus. Das ist es, was passierte."

So sprach der Spezialist für autopoietische Systeme. Ich hatte ihn kontaktiert. Von ihm stammte der Satz: Zufall ist indeterminierte Notwendigkeit. Nach dem Untergang unseres Bildungssystems wollte ich die wahren Ursachen der Katastrophe in Erfahrung bringen. Ich war ein begeisterter Pädagoge gewesen, durchdrungen vom Ethos und von der Freude meines Berufs, bis - ach! - die Ministerin für Bildung auf den Plan trat.

Unerwähnt soll nicht bleiben, dass ich der Ministerin in der Volksschule häufig auf dem Schoss gesessen bin. Ich war ein Heimchen, kontaktscheu,
umarmungsbedürftig; sie war meine Lehrerin. Später wurde sie meine mütterliche Freundin. Ich begleitete sie in den Wald, wenn sie Nistkästen inspizierte. Ich begleitete sie auf der Flöte, wenn sie mit einer Kollegin Duette sang. Sie liebte den Gesang der Vögel und der Menschen. Dann machte sie Karriere, ging auf als der neue politische Stern. Sie wurde Ministerin.

Seltsam, sobald ich sie zum ersten Mal im Fernsehen sah, wirkte sie bereits verändert. Zwar schaute sie aus wie früher, aber etwas in ihren Augen alarmierte mich. War da nicht ein Tremor, ein falsches Glitzern? Und sagte sie nicht merkwürdige Dinge? Alles müsse reformiert werden, alles, der ganze Bildungsbetrieb von oben bis unten, alle Schüler, alle Lehrer, alle Eltern . . . Es begann die Zeit der großen Reformen. Die Gewerkschafter bekamen einen Kummerspeck. Die Ministerin raste. Sie stürzte in das System hinein, tiefer und tiefer. Sie verschmolz mit dem System. Sie wurde ein implodierender Stern, der zum Schwarzen Loch gravitierte. Immer schneller wurde an immer mehr Rädchen gedreht, die immer mehr andere Rädchen drehten, bis schließlich alles in sich selbst raste und dabei stillstand.

Stupor ecstaticus, das also war die Antwort.

Aber nicht die ganze. Was wirklich geschehen war, erfuhr ich erst, als mich die Aliens holten. Ich war vorm Fernseher eingeschlafen, sie holten mich im Traum. Ich sollte Zeugnis ablegen, denn im Gehirn meiner mütterlichen Freundin hatte ich ein ausgeprägtes Sympathieengramm hinterlassen. Nun erfuhr ich, dass sie nicht mehr existierte. Die Aliens hatten sie, das Original, annihiliert und eine Gen-identische Kopie hergestellt. Das war unsere jetzige Ministerin. Sie war darauf programmiert, das Schwarze Loch der Bildung herbei zu reformieren. Auf meine Frage, wozu diese ultimative Maßnahme gut sei, wurde mir von einem Alien zwinkernd beschieden: "Hier geht es ums Ganze." Und hatte nicht der Erdling Wittgenstein gesagt, dass die, die nach langem Suchen den Sinn des Ganzen gefunden haben, dann nicht sagen können, worin er besteht? Da war ein Tremor und ein falsches Glitzern in den Augenschlitzen des Aliens.


Als ich aufwachte, lief der Fernseher noch immer, am Schirm das Abbild meiner mütterlichen Freundin. Das Abbild sagte: Speed kills. Speed heals. Da wusste ich, dass der Alien Recht hatte: Die Ministerin war eine Kopie.

Peter Strasser unterrichtet Philosophie und Rechtsphilosophie an der Karl Franzens Universität. Wichtige Buchveröffentlichung: Der Weg nach draußen (2000).



--
Diese Liste wird vom Personal Computer Club (http://www.pcc.ac) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.