SZ 26 04 03 http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel2529.p
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Dunkler Nutzen
Trotz massiver Kritik haben sich die Kopfnoten in Sachsen gehalten – und weitere Bundesländer wollen sie einführen
Wenn Julia Bonk nach Kopfnoten gefragt wird, fällt ihr sofort das Schicksal einer guten Freundin ein. Die Klassenkameradin hatte in ihren frühen Schuljahren nicht gerade oft und gern gelernt. Dann aber strengte das Mädchen sich um so mehr an. „Sie hat viel mehr gemacht als ich“, sagt die 16 Jahre alte Julia. Doch die Note, die das Mädchen im Kopf des Zeugnisbogens für Fleiß eingetragen bekam, besserte sich nicht. „Wenn man einmal eingeordnet ist“, glaubt sie, „lässt sich oft nicht mehr viel ändern.“ Auch würden sich Lehrer oft bei den Kopfnoten nach der Leistung des Schülers richten. Wer gute Noten in den Fächern habe, bekomme fast logisch gute Fleißnoten – obwohl das gar nicht logisch sei. „Das führt zu ´ner Frustration.“ So richtig wisse man als Schüler nicht, wofür die Noten dann seien. „Die Vergabe ist vollkommen intransparent.“
Die Gymnasiastin Julia Bonk aus Dresden ist die Sprecherin des Landesschülerrats in Sachsen. Sie betont, dass unter den Schülern die Meinung nicht einheitlich sei in dieser Frage, aber die Schülervertretung halte die Vergabe der Kopfnoten prinzipiell für kritisch. Schüler würden oft bezweifeln, dass ihre Persönlichkeit sich in den vier Noten wiederspiegelt, die in dieser Form bisher allein in Sachsen im Zeugnis ausgewiesen werden. 1999 machte der konservative, damalige sächsische Kultusminister Matthias Rößler Kopfnoten zum bildungspolitischen Schlager des Sommers – und freute sich daran. Der mittlerweile zum Wissenschaftsminister aufgestiegene Rößler wollte Sachsen bundesweit als Vorbild für eine auf Strenge und konsequente Leistungsanforderung orientierte Bildungspolitik profilieren und sagte der „Kuschelpädagogik“, wie er sich ausdrückte, den Kampf an.
Zum sächsischen Weg gehört etwa die frühe, rigide Benotung schon im zweiten Grundschuljahr, wo Eltern und Lehrer die Kinder sehr früh zum Kampf um gute Noten für die so genannte Bildungsempfehlung anhalten, ohne die sächsische Schüler nach der vierten Klasse nicht aufs Gymnasium kommen. Auch das zwölfjährige Abitur gehört zu den sächsischen Markenzeichen, und seit 1999 eben jene vier Noten für
die von Eins bis Fünf vergeben werden können, für die Versetzung aber nicht relevant sind.
Die Praxis der DDR
Dem sächsischen Beispiel folgt nun auch Thüringen, in Sachsen- Anhalt – und auch in Bayern – denken die Regierungen über Kopfnoten nach. Bei der Einführung hat Rößler auf Umfragen verwiesen, wonach eine große Mehrheit der Eltern die Noten befürwortet. Selbst der damalige Landesschülerrat unterstützte ihn. Im Parlament lehnte die Opposition die Kopfnoten zwar ab. Doch PDS und SPD wussten, dass auch ihre Wähler für die Kopfnoten seien. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sprach sich dagegen aus, doch der Protest war halbherzig. Die Mehrheit ihrer Basis, so wusste die sächsische GEW-Spitze, wollte die Persönlichkeit der Schüler benoten. Für die Pädagogen war das ohnehin eine Selbstverständlichkeit, denn hier wurde einfach die als bewährt angesehene jahrelange Praxis aus der DDR wieder aufgenommen. Dort waren die Kopfnoten nie abgeschafft worden.
Vier Jahre nach ihrer Einführung wird längst nicht mehr über die Kopfnoten diskutiert. Sie gehören zur schulischen Routine, nur gibt es keinerlei profunde Erkenntnisse über die Praxis ihrer Vergabe oder gar den Nutzen der vermeintlichen pädagogischen Wunderwaffe. Vom sächsischen Landeselternrat ist zu erfahren, dass überhaupt nicht darüber diskutiert werde. Eine wissenschaftliche Begleitung gibt es schlicht nicht. Einen entsprechenden Antrag der SPD-Opposition hate Kultusminister Rößler vor drei Jahren mit der Begründung abgelehnt, dass man doch schließlich aus den Schulen selbst erfahren könne. Frei nach dem Motto: Welche Folgen unsere Arbeit hat, können wir doch selbst am besten beurteilen.
Im Ministerium gibt es keinerlei Statistik über die Notenverteilung. Es gibt auch keine Befragungen, ob sich Schüler gerecht eingeschätzt fühlen. Nur in Einzelfällen sei es bisher zu Beschwerden gekommen, berichtet das zuständige Referat. Der seit einem Jahr amtierende Rößler-Nachfolger, Professor Karl Mannsfeld, kann über den pädagogischen Nutzen für das Klima in der Schule nur Vermutungen anstellen. Aber „aus dem Fehlen jeglicher öffentlicher Diskussion darf ich wohl schließen“, sagt er, „dass es offensichtlich ein akzeptiertes Vorgehen ist.“ Als positiven Effekt nennt Mannsfeld vor allem die Resonanz aus Betrieben, die sich zufrieden zeigten, durch die Kopfnoten mehr über Lehrstellen-Bewerber zu erfahren.
Die Kritiker der Persönlichkeitsbeurteilung hegen indes massive Zweifel. Schon wenn es um die Gerechtigkeit der Noten geht. „Das ist so eine Art Gefühlsnote“, sagt der Bildungsfachmann der SPD-Landtagsfraktion, Siegfried Kost. Häufig habe er bei Gesprächen Lehrer gebeten, ihm doch einmal die vom Ministerium vorgegebenen Kriterien für die Notenvergabe aufzuzählen, die von Aufmerksamkeit über Toleranz bis hin zu Sorgfalt und Pünktlichkeit reichen. „Die sind ganz empört, was ich von ihnen verlange“, berichtet Kost. Ein Lehrer, hört er dann, kenne doch seine Schüler. Auch in GEW-Kreisen argwöhnen kritische Lehrer, dass wohl keine Note so subjektiv und von Lehrergefühlen geprägt sei.
„Ich stelle die Grundlage der Bewertung in Zweifel“, sagt Professor Werner Melzer, Bildungsfachmann der Dresdner TU. Für die Lehrer wäre oft die Zahl der Schüler zu groß, um eine angemessene Bewertung anzustellen. Die PISA- Studie habe zudem gezeigt, dass andere Weichenstellungen erforderlich seien und eine vor allem auf Druck und Benotung setzende rigide Schulkultur nicht zum Erfolg führe. Melzer verweist zudem darauf, dass bei den Ergebnissen der letzten PISA-Studie zum Sozialverhalten der Schüler - deren Methodik Minister Mannsfeld indes anzweifelt - Sachsens Schüler am unteren Ende abschnitten.
Keine Veränderung
„Ich sehe nicht, dass die Kopfnoten irgendwas verändert haben“, sagt Sachsens GEW-Vorsitzende Sabine Gerold. Die Lehrer hätten entweder gern mitgemacht oder die Sache möglichst wenig wichtig genommen. Die Gewerkschaft habe gehofft, „dass sich das schnell überlebt, wenn über ein anderes Schulklima nachgedacht wird.“ Die Hoffnung habe sie eigentlich immer noch. Denn unter dem Eindruck von PISA wird auch in Sachsen kritischer über die Schule debattiert. Auch da sind die Kopfnoten freilich nicht einmal Randthema. „Sie machen keine schulischen Karrieren kaputt“, sagt Gerold. „Ich glaube, auch die Schüler nehmen das nicht sonderlich ernst.“
So richtig ein Thema würden die Kopfnoten eigentlich nur, wenn es Zeugnisse gibt, berichtet Julia Bonk. „Da ist man halt ein bisserl verärgert.“ Aber meistens werde darüber gewitzelt. Freilich wird das nicht immer so sein. In den Abgangszeugnissen tauchen die Kopfnoten zwar gar nicht auf. Doch um Lehrstellen, so weiß man im Kultusministerium, bewerben sich Schüler schon mit den Halbjahreszeugnissen - und da stehen sie drin.
JENS SCHNEIDER
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