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Erschreckende Antworten

Ex-Schülerin vermisst politische Konsequenz aus Mordtat

Von Michaela Seidel

Der 26. April 2002 ist ein Tag, den ich und viele andere wohl nie vergessen werden. An diesem Tag erschoss ein ehemaliger Mitschüler von mir am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen, bevor er sich selbst tötete. Dieser Tag veränderte mit einem Mal so viele Dinge, die Schule, die Lehrer und Schüler, eine ganze Stadt und doch am meisten die Familien, die geliebte Menschen verloren haben. Ein Ex-Schüler schaffte es, das Leben von mehr als 1000 Menschen zu verändern. Ihre Gedanken, ihren Lebensstil, ihre Ängste und Freuden. Alles ist anders geworden.

Nun sind wir alle mit dem ersten Jahrestag dieser schrecklichen Tat konfrontiert, dem ersten Todestag von 17 Menschen. Ein Jahr danach fragen sich viele, was ist denn bis heute passiert? Was hat sich verändert? Wurden all die Versprechen eingehalten, die vor einem Jahr gemacht wurden? Oder hat man diesen schrecklichen Anlass genutzt, um grundlegende Dinge in der Schulpolitik endlich zu ändern? All diese Fragen und noch viele mehr habe auch ich mir mehr und mehr gestellt.

Meine Gedanken drehen sich seit jenem 26. April um nichts anderes, und jetzt, wo der Tag wieder so nahe ist, sind die Fragen umso drängender. Doch die Antworten, die ich auf all die Fragen finde, sind für mich sehr erschreckend. Ich hatte vor fast genau einem Jahr die Möglichkeit, meine Meinung zu dem Thema "Was müssen wir an unserem Schulsystem und der Schulpolitik ändern?" an eigentlich der höchsten politischen Stelle zu äußern. Ich brachte gemeinsam mit unserer Schülersprecherin im Berliner Bundeskanzleramt Vorschläge an, was aus unserer Sicht, der Sicht der Schüler, sowie der der Lehrer getan werden muss. Wo man eventuelle Ansätze finden kann und was für uns die wichtigsten Punkte sind. Dazu zählte zum einen, dass wir es für äußerst wichtig hielten, darüber nachzudenken, ein einheitliches Schulsystem in ganz Deutschland einzuführen, wo es für keinen Schüler Vor- oder Nachteile gibt, wo einfach jeder die gleichen Chancen hat, einen anerkannten Schulabschluss zu erlangen. Und zum anderen waren wir fest davon überzeugt, dass es von großem Vorteil wäre, wenn die Schulen nicht nur aus Lehrern und Schülern beständen, sondern auch ein Schulpsychologe dort zu finden wäre, an den sich Schüler, Lehrer wie auch Eltern wenden können, um Hilfe in manchen vielleicht kritischen Situationen zu bekommen. Ich weiß, wie schwer die Schulzeit für mich war. Lernen, Arbeiten schreiben, nebenbei vielleicht noch die erste große Liebe, und dann die Pubertät. All das sind Dinge, die viele junge Menschen beschäftigen, worüber sie vielleicht reden möchten und doch nicht wissen, mit wem.

Das sind zwei Vorschläge gewesen, die uns sehr am Herz lagen und die in dieser Runde, bestehend aus Erziehungswissenschaftlern und einigen Politikern, mit großer Zustimmung aufgenommen wurden. Kurz bevor wir gingen, versprach man uns, dass darüber nachgedacht wird. Was mit Sicherheit auch geschah, doch es wurde nicht in die Tat umgesetzt.

Sind das denn unmögliche Dinge gewesen, die wir dort angebracht haben? Ich finde nicht! Ich bin überzeugt davon, man hätte etwas tun können. Und ich frage mich heute mehr und mehr, ist denn das alles umsonst gewesen, hat diese schreckliche Tat von Robert am 26. April 2002 die Leute noch nicht genug wachgerüttelt? Hat es ihnen nicht deutlich genug gezeigt, dass etwas gemacht werden muss?

Und doch hat dieser Tag eines geschafft: Er hat Schüler und Lehrer an unserer Schule zu einer Vereinigung gebracht, wo man gelernt hat, Freude und Leid miteinander zu tragen, wo man gelernt hat, miteinander zu reden und dem anderen zuzuhören. Und das ist auch das, was unsere Schule irgendwann wieder aufleben lassen wird.

Michaela Seidel machte zur Zeit des Amoklaufs Abitur am Gutenberg-Gymnasium und brachte die Gefühle vieler Mitschüler auf den Punkt, weswegen sie oft fälschlich als Schülersprecherin tituliert wurde.



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