DER STANDARD
Samstag/Sonntag, 3./4. Mai 2003, Seite 36
Kommentar 

Brief des Herausgebers

Liebe Leserin, lieber Leser,
der Mehrheit der Bevölkerung ist bewusst, dass eine Pensionssicherung nur über eine Pensionskürzung möglich ist. Warum in so einer Situation die Regierung unbedingt den Kraftlackl spielen will, statt das Angebot der Gewerkschaft, sich einbinden zu lassen, anzunehmen, ist schwer nachzuvollziehen.
Dass die Gewerkschaft auf diese Provokation reagiert, war vorhersehbar, angekündigt und verständlich. Dass sie gleich zum Streik greift - einer ihrer stärksten Waffen -, ist genauso intelligent wie das Imponiergehabe der Regierung. Insbesondere die Wahl der bestreikten Branchen besticht. Man spürt bereits im Vorfeld die Verzweiflung der Adressaten des Streiks, der Bundesregierung, wenn in der Nacht zum Dienstag der Güterverkehr stillgelegt sein wird. Oder wenn am Dienstag die Post noch später als sonst ausgetragen wird. Am meisten zerknirscht werden alle einzelnen Regierungsmitglieder natürlich sein, wenn sie am Dienstag keine kritischen Kommentare über sich selbst lesen werden können.
Mit dem Beschluss, am Dienstag keine Zeitungen erscheinen zu lassen, dokumentiert die Gewerkschaft, in welche Richtung sie sich seit ihren Anfängen weiterentwickelt hat. Während seinerzeit unter dem Motto "Wissen ist Macht" darum gekämpft wurde, Information als Lebensnerv der Demokratie zu fördern, betrachten die smarten Gewerkschaftsmanager von heute Information ähnlich wie die Verleger mancher ihrer
Lieblingspublikationen: als Ware, die in jeder Beziehung ihren Preis hat und - wenn es wirtschaftlich nützlicher erscheint - auch vorenthalten wird. Besonders bemerkenswert ist das selbstlose Verhalten der Druckergewerkschaft. Während die gedruckte Zeitung angesichts der technologischen Herausforderung (Internet, E-Paper) weltweit ums Überleben kämpft, startet die Gewerkschaft einen flächendeckenden Feldversuch, der, wenn er "gelingen" sollte, beweisen kann, dass die Zeitungsdrucker bald ebenso überflüssig sein werden, wie es die früher als Elite der Arbeiterschaft betrachteten Zeitungssetzer heute schon sind.
Es ist jedoch zu vermuten, dass der Zeitungsdrucker-Streik insofern durchbrochen wird, als es manchen Zeitungen gelingen wird, irgendwo, irgendwann zumindest Notzeitungen zu drucken und - wenn auch vielleicht verspätet - mithilfe ihrer Vertriebsorganisationen an die Leser zu bringen. Der Gewerkschaft gelänge es so in bereits bewährter Weise, marktbeherrschenden Verlagen einen weiteren Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. DER STANDARD wird versuchen, seine Leserinnen und Leser via Internet www.derStandard.at und/oder mithilfe des ab kommenden Montag im Testversuch geplanten E-Paper-Produkts www.derstandarddigital.at bestmöglich zu informieren. Ihr Oskar Bronner


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