Rheinischer Merkur 01 05 03

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LEHRERSTUDIE / Potsdamer Wissenschaftler analysieren die Arbeitsbelastungen der Schulmeister Vom Versagen bedrängt

Schwierige Schüler, zu große Klassen und kaum Rückhalt bei den Eltern: Für viele Pädagogen wird Unterricht halten zum Horrorjob.

Autor: UWE SCHAARSCHMIDT und ANDREA BITZMANN

Jeder zweite Lehrer empfindet den Stress in seinem Beruf als besonders belastend, fast jeder dritte zeigt Anzeichen von Selbstüberforderung und Resignation. Dem stärksten Druck sind Lehrinnen ausgesetzt. Das sind die alarmierenden Ergebnisse einer Studie zur Berufsbelastung von Lehrerinnen und Lehrern, die das Institut für Psychologie an der Universität Potsdam mit mehr als 7000 Pädagogen in ganz Deutschland durchführt. Der erste Teil dieser Untersuchung, die bis ins Jahr 2007 fortgeführt wird, wurde jetzt vorgestellt. Auftraggeber ist der Deutsche Beamtenbund, den nicht zuletzt in Sorge versetzt, dass nur noch sechs Prozent der Lehrkräfte das volle Pensionsalter erreichen. Einer Studie der Universität Kassel zufolge hören 65 Prozent der Lehrer bereits mit 57 Jahren auf, die überwiegende Mehrheit wegen schwerer gesundheitlicher Probleme. Das bestätigt eine Untersuchung des Erlanger Arbeitsmediziners Andreas Weber, wonach 52 Prozent der vorzeitig als dienstunfähig ausscheidenden Lehrer psychisch krank sind. Das Statitische Bundesamt listet auf: 45 Prozent leiden unter psychischen Störungen, dreizehn Prozent weisen Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane auf, zehn Prozent haben Kreislauf- oder Herzprobleme.

Total ausgebrannt

Nun sind Stress und Burnout-Symptome bei Lehrern nicht neu. Im Gegenteil. Seit je gehören Pädagogen – wie Pfleger oder Ärzte – zu den helfenden Berufen, die psychisch und psychosomatisch besonders gefährdet sind. Aber keine andere Gruppe ist so ausgebrannt. Immer mehr Lehrkräfte klagen, dass ihre Aufgaben stetig zunehmen bei gleichzeitiger Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Insbesondere beklagen sie Verhaltensprobleme der Schüler und nachlassende Unterstützung durch die Eltern, die der Schule außer der Wissensvermittlung auch das Erziehungsgeschäft überlassen.

Dabei ist bei Lehrern – immerhin die größte akademische Berufsgruppe – die psychische Gesundheit wichtig, weil sie das Niveau der schulischen Arbeit direkt berührt; eine hohe Qualität des Lehrens und Lernens kann auf Dauer nur mit Kräften gelingen, die sich zufrieden, engagiert und widerstandsfähig gegenüber den berufsspezifischen Belastungen zeigen. Zudem ist es kaum möglich, junge Leute für einen „Horrorjob“ zu begeistern. Dabei wird guter Nachwuchs dringend gebraucht.

Doch trotz des nachgewiesen hohen Risikos, psychisch zu erkranken, bedeutet der Lehrerberuf nicht zwangsläufig eine gesundheitliche Gefahr. Dagegen sprechen schon die unterschiedlichen Aussagen über Art und Ausmaß der Belastungen. Umso wichtiger ist es zu wissen, worin sich die gesunden von den beeinträchtigten Lehrern unterscheiden. Einfacher gesagt: Wir müssen möglichst früh erkennen, wer als Pädagoge zu scheitern droht und wer Aussicht auf erfolgreiches Tun hat.

Vier Verhaltensmuster

Schon deshalb gehören Eignungsprüfung und Praxiserfahrung ins
Lehramtsstudium; ängstliche, risikoscheue oder kontaktgestörte Studenten können sich kaum zu überzeugenden Lehrerpersönlichkeiten entwickeln. Außerdem müssen die Kollegien lernen, dem Einzelnen mehr Anerkennung und „moralische“ Unterstützung zu geben. Die Stressforschung hat nachgewiesen, dass seelische Unterstützung in Belastungssituationen Stresshormone abbaut.

Das Potsdamer Pychologen-Team hat bei der Erforschung beruflicher Belastung entdeckt, dass sich bei Berufstätigen vier grundlegende Typen beziehungsweise Muster beschreiben lassen, die sich in Bezug auf Leistungsfähigkeit, Selbstwerterleben und Kommunikationsverhalten deutlich unterscheiden. Das jeweilige „Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster “ (AVEM) bildet sich auf der Grundlage von elf für den Beruf relevanten Dimensionen heraus: Bedeutsamkeit der Arbeit, beruflicher Ehrgeiz, Verausgabungsbereitschaft, Perfektionsstreben, Distanzierungsfähigkeit, Resignationstendenz, offensive Problembewältigung, innere Ruhe/Ausgeglichenheit, Erfolgserleben im Beruf, Lebenszufriedenheit, Erleben sozialer Unterstützung.

Die einzelnen Verhaltensmuster:

Muster G hat ein gesundheitsförderliches Verhältnis gegenüber der Arbeit. G-Typen sind belastungs- und erholungsfähig, engagiert, wissen sich zu behaupten, können sich aber auch distanzieren; sie wünschen Kooperation und sind kommunikationsfähig.

Muster S ist auf eigene Schonung bedacht. S-Typen sind reduziert leistungsbereit, grenzen sich ab, können sich aber behaupten. Ihr Verhältnis zur Arbeit ist wenig engagiert, ohne resignativ zu sein. Die Kommunikation ist in Ordnung, solange keine besondere Leistung erforderlich ist.

Risikomuster A ist durch überhöhtes Engagement für die Arbeit charakterisiert. A-Typen sind ehrgeizig und aufopfernd, können sich aber nicht distanzieren. Sie sind empfindlich und leicht zu kränken. Sie empfinden keine positive Anerkennung für ihren großen Einsatz. Sie sind nicht erholungsfähig und dadurch gefährdet.

Risikomuster B meint den Burnout-Zustand. B-Typen sind erschöpft und resigniert, seelisch und psychosomatisch belastet. Sie haben kein Selbstvertrauen, können sich nicht durchsetzen. Sie sind im Kollegium isoliert und können sich auch nicht helfen lassen.

Bei der Zuordnung von mehr als 4000 Lehrerinnen und Lehrern aus Brandenburg, Berlin, Bremen, Niedersachsen, Bayern und Österreich zu einem der vier Typen stellte sich heraus, dass es in allen Regionen wenige G- und viele B-Typen
gibt; deutschlandweit steht es also eher schlecht um die Lehrergesundheit. Die brandenburgische Stichprobe weist zudem signifikant mehr gefährdete A-Typen auf als die Stichproben in den westdeutschen Bundesländern und in Österreich. Auch bei Ost- und Westberliner Lehrern ist dieser Unterschied festzustellen.

Regionale Unterschiede

Ein Profilvergleich von Brandenburg und Niedersachsen zeigt, dass sich Brandenburger Lehrerinnen und Lehrer durchweg als engagierter und aktiver, zugleich aber als weniger widerstandsfähig und weniger zufrieden erleben als ihre West-Kollegen. Das gilt ähnlich für Ost- und Westberliner Lehrer. Allerdings scheint sich der Ost-West-Unterschied nach und nach aufzulösen, während eine Nord-Süd-Differenz bleibt: Bayerische Lehrer fühlen sich – wie ihre österreichischen Kollegen – mehrheitlich den Anforderungen ihres Berufes gewachsen (siehe Grafik).

Die Potsdamer Forschergruppe hat unter anderem nach dem Zusammenhang von Gesundheitsrisiko und Schultyp gefragt. Dabei wurden gleich mehrere Unterschiede deutlich. In allen Regionen sind Typ-A-Lehrer, also die besonders engagierten, sehr empfindlichen und nicht erholungsfähigen Pädagogen, stärker in der Grundschule und im Gymnasium vertreten; Typ-B-Lehrer, die an Burnout und Depressionen leiden, kommen häufiger in der Hauptschule beziehungsweise in der Gesamtschule vor, wenn wie in Brandenburg keine Hauptschule existiert.

Einige Ergebnisse weisen auch darauf hin, dass das Gefühl, in einem bestimmten Schultyp besonders beansprucht zu sein, in hohem Maße durch die jeweiligen regionalen Rahmenbedingungen vermittelt sein dürfte. So ist zum Beispiel in den Berufsschulen Brandenburgs der Typ-B-Lehrer, der gar nicht mehr klar kommt, weitaus stärker vertreten als in westdeutschen Ländern.

Bundesweit begründen Lehrerinnen und Lehrer die hohe Beanspruchung mit den konkreten Arbeitsbedingungen. Als die am meisten belastenden schulischen Arbeitsbedingungen nennen sie:

das Verhalten schwieriger, das heißt undisziplinierter und störender
Schüler;

die Klassenstärke, zumal in großen Klassen in der Regel mehr schwierige Schüler sind; auch die psychisch gesündesten Lehrer geben an, dadurch stark belastet zu sein;

die Stundenzahl; eine Erhöhung der Pflichtstundenzahl wird vor allem dann zur Belastung, wenn damit die Wirkung besonders problematischer Arbeitsbedingungen (zu große Klassen, demotivierte und undisziplinierte
Schüler) noch verlängert wird.

Zweifellos müssen die Arbeitsbedingungen der Lehrer verbessert werden. Auch wenn in anderen Ländern, etwa in Japan oder der Schweiz, die Klassengröße eine verhältnismäßig geringe Rolle für Lehrer und ihren Unterrichtserfolg zu spielen scheint, fühlen sich die Lehrer hierzulande durch große Klassen mit in der Regel vielen schwierigen Schülern überfordert. Wenn sie dann auch noch, wie in etlichen Bundesländern beschlossen, mehr Unterrichtsstunden leisten sollen, halten sie den Anforderungen noch weniger stand. Depressionen, so die Erfahrung von Psychiatern, scheinen sich zur Berufskrankheit von Lehrern zu entwickeln.

Immer öfter fühlen sich Lehrer als „Fußabstreifer“ der Gesellschaft. Und allzu oft haben sie Recht. Umso dringlicher sind Gegenmaßnahmen. Dazu gehört unter anderem, dass Erziehung wieder als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen wird; dass die Bürokratisierung im Schulalltag abgebaut wird und Kontinuität einkehrt. Aber auch Lehrer müssen lernen: etwa offen mit-einander umzugehen und sich gegenseitig zu unterstützen. Und: Jede Schule muss in den Normen und Zielen ihrer Arbeit übereinstimmen.



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