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Das größte Experiment - geglückt

Mathematik und Naturwissenschaften kann man besser unterrichten / Ein Erfolgsmodell heißt Sinus

Von Jeannette Goddar

In Wiefelstede, einer 15 000 Einwohner großen Gemeinde im Oldenburger Land, haben die Achtklässler der Haupt- und Realschule in den vergangenen Jahren alle möglichen Experimente gemacht: Sie sind ans Hörner Diek, ein Regenrückhaltebecken im Ort, gefahren und haben nachgeschaut, was der Lebensraum Wasser hergibt. Sie haben Pflanzen, Kleintiere und die Wasserqualität bestimmt, den Lichteinfall, die Sicht- und Wassertiefe gemessen, die Temperaturschichtung nachvollzogen und überlegt, wie sich diese mit den Jahreszeiten verändert. Sie waren mit Freude dabei, weil sie endlich in der tatsächlich existierenden Welt nachvollziehen konnten, wozu Naturwissenschaften eigentlich gut sind.

Wechselseitig Kritik ertragen

Das größte Experiment aber haben die Lehrer hinter sich. Anstatt hinter verschlossenen Türen und geradezu heimlich haben sie ihren Unterricht öffentlich gemacht. Jede Woche haben sie zusammengesessen und diskutiert, wie ihre Stunden verlaufen sind, wie die Klasse auf welche Aufgabe reagiert und was man verbessern könnte. Sie haben ihre "Auftritte" vor den Klassen verglichen und "Regiebücher" untereinander getauscht, sich über die Schüler unterhalten und darüber, was der Kollege vielleicht vernachlässigt oder außer Acht gelassen hat. Sie haben es ertragen, wenn sie kritisiert wurden. Wochenlang haben sie die Fächer Biologie, Chemie und Physik gemeinsam unterrichtet.

Die Haupt- und Realschule Wiefelstede ist eine von 180 Schulen, die an dem Projekt "Sinus" zur Verbesserung des mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterrichts teilgenommen haben. Aus elf Modulen suchte man sich eines aus - das mit dem Titel "Fächergrenzen erfahrbar machen: Fächerübergreifendes und fächerverbindendes Arbeiten". Weil das Sinus-Konzept einiges bot - eine Analyse typischer Unterrichtsfehler, ein paar Entlastungsstunden, die Möglichkeit zur Fortbildung, die Freiheit von konkreten Vorgaben -, machte man sich selbst auf den Weg. In stundenlanger Kleinarbeit überlegten die Fachlehrer gemeinsam, wie gemeinsamer Unterricht aussehen und woran es bislang gehapert haben könnte. Am Ende kam die praxisorientierte Unterrichtseinheit "Lebensraum Wasser" heraus.

In der vorigen Woche waren die Wiefelsteder Lehrer bei der Sinus-Abschlusstagung in Berlin dabei. Wer mit ihnen ins Gespräch kam, erhielt eine Lektion, wie wichtig es ist, dass auch Lehrer Spaß an ihrem Unterricht haben - und wertvolle Hinweise, wie man das erreichen kann. "Wir sind zusammengewachsen", konstatierte der Physiklehrer Horst Bremer. "Das war eine ganz tolle Erfahrung. Nachdem jeder jahrelang vor sich hingewerkelt hat, haben wir gelernt, wie viel weiter man gemeinsam kommt." Auch den Schülern sei man so näher gekommen. "Sie haben gemerkt, dass wir über sie reden. Dadurch hatten sie das Gefühl, ernst genommen zu werden." Die Chemielehrerin Ulrike Schwartz wollte erst gar nicht glauben, wie verändert die Schüler reagierten. Pubertierende Hauptschüler an Chemie heranzuführen sei immer eine Herkulesaufgabe gewesen. Und plötzlich habe die "uninteressierteste Klasse, die ich je hatte, angefangen, Forschergeist zu entwickeln." Voller Begeisterung stürzten sie sich auf das Seewasser, hantierten mit Proben und legten kleine Gärten an. "Das war faszinierend", berichtete Schwartz. Aber: Sie habe auch viel Arbeit in das Verändern eigener Muster gesteckt. "Wenn man immer versucht hat, mit einer festen Struktur durch den Lehrplan zu kommen, hinterlässt das Spuren. Und jedes Mal, wenn man in Zeitdruck gerät, will man alles wieder so machen wie früher." Die Beharrungskräfte dessen, was man so gut kennt - Frontalunterricht, der in winzigen Schritten versucht, zum gewünschten Ergebnis zu kommen -, war einer der Ausgangspunkte des Programms. "Wer das Gefühl hat, dass der Unterricht entgleitet, fällt in der Regel sofort in alte Muster zurück", erläuterte Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. "Da setzt Sinus ein." Das Gutachten, das Baumert den Lehrern zu Beginn vorlegte, offenbarte die klassischen Schwächen des
Unterrichts: Zu viel kleinschrittige Ergebnisorientierung, zu wenige Variationen der Übungsformen, mangelnde Vernetzung und Lebensnähe der Unterrichtsinhalte. Auf der Grundlage dieser Analyse machten die Schulen sich auf einen Weg, der zugleich das Ziel war: Professionell begleitet sollten sie erfolgreichen Unterricht im Selbstversuch entdecken.

Aus Fehlern wirklich lernen

Die Wege dahin waren ganz verschieden. Viele Schulen haben mit der Fragestellung experimentiert, wie man interessantere Aufgaben stellen kann. Sie haben sich Probleme ausgedacht, die etwas mit dem Leben der Schüler zu tun haben. Oder sie haben falsche Antworten vorgegeben und die Schüler auf Fehlersuche geschickt. Einige nahmen sich den Komplex "Wie setzt man Hausaufgaben sinnvoll ein?" vor. Andere haben erprobt, wie man Fehler als "Lerngelegenheit" behandelt.

Am Otto-Hahn-Gymnasium in Tuttlingen zum Beispiel waren die Schüler gehalten, Fehleranalysen zu schreiben. Darin leiteten sie her, warum und wo sie sich verrechnet hätten. "So weit war ich noch richtig", steht etwa in einer Analyse, "aber dann habe ich meinen ersten Leichtsinnsfehler gemacht, als ich..." "Anstrengend" sei das, sagt die Elftklässlerin Sandra Fritz, "aber man merkt sich Dinge auch viel eher, wenn man gehalten ist, sie wirklich zu verstehen". Als Erholung durften die Schüler hin und wieder ihrer Kreativität freien Lauf lassen und mathematische Aufsätze schreiben. Einer von ihnen trug den schönen Titel: "Die romantische Seite der Mathematik".



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