Frankfurter Rundschau 06 05 03 http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/die_seite_3/?cnt=2
07113

Einübung des Protests

In Österreich verabschiedet sich der Gewerkschaftsbund nach mehr als 50 Jahren vom Burgfrieden

Von Ulrich Glauber (Wien)

"Das", sagt ein Streikposten an den Toren von Voest, "das ist nur eine erste Warnung." Der Mann gibt sich ausgesprochen kämpferisch. Ähnlich wie annähernd 10 000 Beschäftigte des in Linz ansässigen Stahl- und Technologiekonzerns. An diesem Vormittag laufen die Hochöfen nur auf Notbetrieb, die Arbeiter kommen zu Betriebsversammlungen zusammen. Das ist Protest. Gegen die Regierung in Wien und ihre sozialpolitischen Pläne.

Das für diesen Dienstag in Österreich angekündigte Chaos bleibt aus. Trotz aller Befürchtungen. Trotz des landesweiten Streiks gegen die Reform der Altersversorgung. Die Aktionen führen zum Verzicht, viele Pendler lassen ihr Auto stehen und nutzen ihr Fahrrad auf den Wegen entlang des Wiener Gürtels. "Da sieht man mal, wer alles ohne Auto auskommen kann", witzelte ein Grüner in der bürgerlichen Josefstadt über die Angst der Pendler vor einem Verkehrkollaps. In den Großstädten bleiben U-Bahnen, Trams und Busse zwar in den Depots, doch die pragmatischen Österreicher, die bereits tags zuvor wegen des Ausstands der Drucker auf die morgendlichen Zeitungen hatten verzichten müssen, wissen sich zu helfen: Wer also trotz des Zugeständnisses vieler Arbeitgeber, erst nach dem Ende der Auszeit am späten Vormittag in die Firma zu kommen, doch pünktlich sein muss, steigt auf Inlineskates um und nutzt die freien Trassen des öffentlichen Nahverkehrs.

Der Österreichische Gewerkschaftsbund setzte auf kontrollierte Offensive. Schließlich sollte das erst der Anfang sein. Eine Warnung gleichsam. Die Rechnung schien aufzugehen. Die Gewerkschafter konnten mit Verständnis rechnen. Zumindest für diesen Fall. Wenigstens für diese Aktion gegen die in Wien. Weil das nicht so weitergehen könne. "Ein Leben lang hackelt man", bringt ein Autofahrer in Graz an diesem Vormittag seinen Unmut zum Ausdruck: "Und jetzt werden wir wieder am meisten gestraft." Wer dennoch kein Verständnis zeigt, wird mitunter ruppig in die Schranken gewiesen. Etwa an der burgenländischen Grenze nach Ungarn. Dort klagt ein Lastwagenfahrer trotz großräumiger Umleitungen bei den Streikenden über den ihm drohenden finanziellen Ausfall, weil er stundenlang auf die Zollabfertigung warten muss. "Wenn die Pensionsraub-Reform kommt, dann is Dein Schaden aan Schaas gemessen an dem, was Du dann einbüßt", hält ihm eine Funktionärin der Gewerkschaft entgegen.

Das ist der Anfang. Es geht um eine Warnung. Das hatte der Gewerkschaftsbund vor den Protestaktionen betont. "Der schlafende Riese" mit seinen 1,6 Millionen Mitgliedern unter acht Millionen Österreichern muss seine Rolle als Konfliktpartei im Arbeitskampf nach Jahrzehnten des sozialen Konsenses erst wieder finden.

In ähnlicher Bewegung wie jetzt waren Gewerkschafter in der Alpenrepublik zuletzt im Herbst 1950. Damals waren es die Kommunisten, die wegen eines neuen Lohn- und Preisabkommens der Sozialparteien mit tausenden Demonstranten das Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz zu stürmen drohten. Der legendäre Gewerkschaftsboss Fran Olah, der einen Putsch befürchtete, ließ die Demonstranten verjagen. Seitdem wurden sämtliche Tarifverträge und gesellschaftlichen Sicherungssysteme zwischen den Parteien ausgeschnapst. Das brachte das Land in der Streikstatistik der europäischen Ländern auf einen hinteren Rang.

Doch der Konsens der Funktionäre beförderte auch Misstrauen. Argwohn ob der Privilegien wiederum, die sich die Kungelrunden zugestanden haben, verhalf dem Rechtspopulisten Jörg Haider und seinen "Freiheitlichen" zu ihrem Aufstieg.

Zu den ungeschriebenen Gesetzen des Landes gehörte bis vor wenigen Jahren neben der friedlichen Tarifpolitik auch der Grundsatz: Mit denen vom rechten Rand nicht. Erst Kanzler Wolfgang Schüssel brach die Spielregel, als er seine Volkspartei nach Jahren der Juniorpartnerschaft mit den Sozialdemokraten zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine Koalition mit der Haider-Partei lenkte. Nach dem Erdrutschsieg bei den vorzeitigen Wahlen im vergangenen Herbst scheint der Wiener Regierungschef Lust auf die nächste Tabuverletzung bekommen zu haben. Selbst die Unternehmerorganisationen beklagen, dass Schüssel die umfassendste Umstrukturierung der Altersversorgung in der Nachkriegsrepublik ohne Rücksprache mit den Sozialparteien binnen Wochen durch das Parlament peitschen will.

Dabei hat auch der Gewerkschaftsbund längst eingesehen, dass eine Rentenreform bei steigender Arbeitslosigkeit und höherer Lebenserwartung geboten ist. Gewerkschaftsführer Fritz Verzetnitsch jedoch vermisst Gesprächsbereitschaft. "Da sollen 600 Seiten Gesetzestext im Parlament in acht Stunden behandelt werden. Man gibt sich offen für Verhandlungen und denkt sich seinen Teil", beklagt sich Verzetnitsch, zugleich Abgeordneter der Sozialdemokraten, bei der Betriebsversammlung der Straßenbahner in Wien. Einst bildeten sie Vorhut der Sozialisten.

Die Warnung der Gewerkschaft kommt Haider gelegen. Der Kärtner Landeshauptmann, dessen Stern im Süden der Provinz schon zu verglimmen schien, verglich Kanzler Schüssel mit der Comic-Figur Popeye, der seine Kraft aus dem büchsenweisen Konsum von Spinat bezieht. Haider schenkt den auch am Streiktag noch einmal vorgetragenen Beteuerungen Schüssels, die Reform der Altersversorgung sei unumstößlich, wenig Glauben. "Was nützen solche Bekräftigungen, wenn sich keine Mehrheit findet", unkte der Rechtspopulist. Er will nun die Abgeordneten, die aus seinem Bundesland stammen und für die "Freiheitlichen" im Wiener Parlament sitzen, gegen die Reform mobilisieren. Durchaus mit Aussicht auf Erfolg. Dem offiziellen Parteichef der Rechtspopulisten, Herbert Haupt, kommen da anscheinend zumindest Zweifel am Tempo des parlamentarischen Verfahrens. "Wir haben bis zum 4. Juni noch Zeit für Verhandlungen - vielleicht auch ein paar Tage darüber hinaus", brummelte der Vize-Kanzler kurz nachdem das Kabinett die von Regierungschef Schüssel beförderte Vorlage zur Altersversorgung beschlossen hat.

Beim Gewerkschaftsbund wächst der Kampfesmut. 300 000 Arbeitnehmer hätten an den Aktionen teilgenommen, zieht Gewerkschaftsboss Verzetnitsch am Dienstag zufrieden Bilanz. Die nächsten Streiks sind bereits für den 16. Mai geplant - und ein Flop ist in der jetzigen Atmosphäre kaum zu erwarten. "Wir wissen schon, dass die Bevölkerung von uns verlangt, wir sollten härter werden", räumt ein Gewerkschaftsfunktionär am Rande einer Demonstration in Graz ein: "Aber", setzt er hinzu, "man verschießt sein Pulver nicht gleich beim ersten Mal."



--
Diese Liste wird vom Personal Computer Club (http://www.pcc.ac) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.