ZEIT http://www.zeit.de/2003/20/C-Potsdam

Eine Schule zum Verlieben

Wegen der staatlichen Montessori-Gesamtschule ziehen Familien nach Potsdam

Von Reinhard Kahl

Ich brauche jetzt ein Jackett.“ Moritz versetzte seine Eltern nach ein paar Tagen Montessori-Schule in Staunen. So hatten sie sich das nicht gedacht. Mitten im ersten Schuljahr waren sie von Berlin nach Potsdam umgezogen, auch wegen dieser Schule, die im Ruf steht, Kinder zu begeistern. Wozu brauchen dort Erstklässler ein Jackett? „Ich muss einen Vortrag halten“, antwortete Moritz.

Schon die Kleinsten halten Vorträge. Noten gibt es bis zur 8. Klasse nicht – wie im Schulmusterland Schweden. Aber was für eine Prüfung ist so ein Vortrag! Welche Vorfreude und Aufregung, welche Scham, welcher Stolz und was für eine Leistung! Moritz’ erster Auftritt handelte von Pferden. Inzwischen ist er im fünften Jahrgang und referiert souverän über Experimente mit Lichtstrahlen. Im Jackett ging er übrigens nur einmal zur Schule. Dass Vortrag und eine bestimmte Kleidung zusammengehören, kannte er von seinem Vater, der inzwischen drei Söhne an der Montessori-Gesamtschule Potsdam hat. Christoph Miethke ist Vorsitzender des Fördervereins. Er ist Unternehmer und gerade dabei, mit einem neurochirurgischen Implantat den Weltmarkt zu erobern. In manchen Monaten verbringt er mehr Zeit auf Kongressen in den USA und bei Besprechungen in Japan als zu Hause. Dennoch, das Engagement für die Montessori-Schule Potsdam ist für ihn das Dritt- oder Viertwichtigste im Leben. Warum? „Ja warum“, stutzt er, „ich bin verliebt in diese Schule.“ Schließlich gehe es dort um die gleiche Haltung wie in seiner Firma. „Was rauskriegen und mitmachen, das bringt Freude.“

Miethkes jüngster Sohn Tillmann geht in die erste Klasse. Das bedeutet hier allerdings, dass er zusammen mit Schülern aus dem ersten, zweiten und dritten Jahrgang lernt. In altersgemischten Gruppen voneinander zu lernen, zusammenzuleben und sich gegenseitig zu erziehen wie Geschwister, das ist eine der Grundideen aus der Reformpädagogik, sei es der von Peter Petersen oder der von Maria Montessori. Erst gehört das Kind zu den Jüngeren, dann zu den Älteren, und wenn es in die nächste Gruppe, die der Viert-, Fünft- und Sechstklässler kommt, ist es wieder ein Anfänger. So soll gar nicht erst die Illusion aufkommen, Kinder könnten im Gleichschritt unterrichtet werden.

Unterricht, wie man ihn kennt, gibt es hier ohnehin meist nicht. Tagesanfang in einer der drei parallelen Klassen mit dem ersten, zweiten und dritten Jahrgang. Die Schüler sitzen im Halbkreis und lauschen dem achtjährigen Jacob, der über Apfelsorten doziert. Früher gab es mal 32, jetzt mehr als 2000 Sorten. Neben Jacobs gut geordneten Notizzetteln stehen sechs Schalen voller Apfelscheiben. In jeder eine andere Sorte. Die reicht er nun herum. Auch schmecken ist eine Übung im Unterscheiden. Und lernen heißt hier eher, Unterschiede zu erkennen, als etwas zu kopieren. Jacob erzählt weiter, was er über Blüten, Ernte und Sorten herausfinden konnte, und die Kinder fragen nach. Wer bloß etwas aus Büchern zusammengeschrieben hat, kommt hier nicht weit. Aber warum auch mogeln? Das Leben ist so vielfältig, es schmeckt, und es gibt so viel zu wissen – weshalb sich dann betrügen?

Anschließend stehen Schneeglöckchen auf dem Programm. Warum gibt es nur weiße? Manche Fragen bleiben offen. Dann kommen Kritik und Lob aus dem Halbkreis. Die Vorträge waren wieder einmal zu lang. Höchstens zehn Minuten und anschließend fünf Minuten für Fragen, so soll es sein. „So, jetzt noch eine Viertelstunde für Malte“, interveniert die Lehrerin. Malte hat sich auf Kastanien vorbereitet. Als Erstes erfährt man, dass Esskastanien gar keine Kastanien sind, sondern Verwandte der Buchen.

Vortrag über Schneeglöckchen

In der zweiten Stunde wird dem Besucher eine Augenbinde gereicht. Das gehört mit zum Ritual, das im vergangenen Jahr mehr als 800 Gäste dieser Schule gern ertragen haben. Warum denn eine Augenbinde? „Jetzt ist Freiarbeit“, erklärt Ulrike Kegler, die Schulleiterin. „Hören Sie doch einfach mal nur zu.“ Manch einer kommt mit der Erwartung, in einer so frei arbeitenden Schule müsse man sich wohl häufig die Ohren zuhalten. Falsch. Wenn man nichts sieht, bemerkt man erst, wie vorsichtig und rücksichtsvoll die Kinder miteinander sprechen. Dabei macht in dieser und der folgenden Stunde jeder etwas anderes: Vorträge vorbereiten, sich gegenseitig Rechtschreibübungen diktieren, mit den vielen Materialien zum Rechnen experimentieren. Und manche machen scheinbar gar nichts. Daniela, die eben noch den Vortrag über Schneeglöckchen gehalten hat, geht quer durch den Raum, bleibt stehen, guckt nach unten, mindestens eine halbe Minute lang, blickt ganz ernst, lächelt in sich hinein, kehrt um, holt sich einen Holzkasten mit Perlen und anderem Material für Rechenübungen aus dem Regal und setzt sich auf den Boden. Was mag da wohl passiert sein? Das sind die Augenblicke, von denen Ulrike Kegler meint, sie seien die wichtigsten, und alles andere sei ohne sie fast nichts. Denn Lernen sei so verschlungen und diskontinuierlich wie ein Forschungsprozess oder wie moderne Musik. Langsam baut sich etwas auf. Verschiedenes wird ausprobiert. Nicht alles will passen, und dann das Aha, leuchtende Augen, ein Crescendo der Neuronen.

Am beeindruckendsten sind in dieser Schule die Gesichter der Schüler. Diese Schönheit beim Erwachen und allmählichen Erwachsenwerden von Intelligenz ist ein unschlagbares Argument. Kein Wunder, dass mancher, der das gesehen hat, umzieht.

Die Schulleiterin schätzt, dass in den letzten Jahren wegen der Schule mindestens 50 Familien nach Potsdam gekommen sind. Eine der ersten war vor sechs Jahren die des jetzigen Berliner Innensenators Erhard Körting. Seine schwerbehinderte Tochter macht im Sommer den Abschluss in der 10. Klasse der Gesamtschule. Die beiden anderen Kinder wechseln, wie die meisten, nach der sechsten Klasse auf ein Gymnasium.

„Wir sind eine ganz normale staatliche Schule“, sagt Schulleiterin Ulrike Kegler. Das stimmt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es ganz normal ist, besonders zu sein.

Die frühere Karl-Liebknecht-Oberschule begann 1991 mit der Integration behinderter Kinder, nahm viele Ideen aus der Montessori-Pädagogik auf und nennt sich seit zweieinhalb Jahren nach der italienischen Reformerin. Als Schulversuch des Landes Brandenburg haben die Potsdamer größere Freiheiten. Im vergangenen Herbst gewannen sie den von der Bertelsmann Stiftung unterstützten Brandenburger Wettbewerb Innovative Schulen.

Häufig prallen die Ideen reformerischer Pädagogen an den vermeintlich realistischen Ängsten von Eltern ab. Leuchtende Augen der Kinder, wen werden sie nicht begeistern? Aber dann kommt der Einwand: Ist das denn die richtige Vorbereitung aufs spätere Leben? „Wenn die Kinder selbst was wollen und wissen, was sie wollen“, sagt der Vater und Unternehmer Christoph Miethke, „ist das die allerbeste Vorbereitung.“ Und dass sie nicht nur Fußball spielen wollen, beobachtet er bei seinen drei Söhnen. Dass es überhaupt nichts nützt, etwas zu wissen, wenn man es nicht mitteilen kann, weiß er aus seinem Betrieb. Deswegen findet er es so gut, dass seine Kinder lernen, aus sich herauszugehen und sich vor die Klasse zu stellen, aber auch mit anderen zusammen darüber reden, wo in einer Matheaufgabe, die sie nicht lösen können, wieder der Zahlenteufel steckt.

In der Montessori-Gesamtschule engagieren sich auffallend viele Eltern, die Unternehmer oder Freiberufler sind. Mit der Schulleiterin und der Mehrheit der Lehrer haben sie bald herausgefunden, dass sie Ähnliches wollen: Selbstbewusstsein, eine Arbeitshaltung und Atmosphäre, „in der die unendliche Individualität jedes Kindes respektiert wird“, wie Christoph Miethke es formuliert. „Und Zusammenarbeit!“, schickt er hinterher. Mit der Zusammenarbeit haben die Eltern selbst angefangen. Sie veranstalten regelmäßig pädagogische Seminare, zu denen auch am Wochenende 60 Mütter und Väter kommen. Oder sie bieten eine Woche lang selbst Unterricht an, damit die Lehrer in dieser Zeit neue Projekte vorbereiten können. Eltern präsentieren, was sie gut können. „Anschließend war unserer Respekt vor der Lehrerarbeit enorm gewachsen“, sagt Miethke.

Selber laufen lernen

Der Elternverein hat mühelos durchgesetzt, dass Eltern 100 Euro im Jahr zahlen. Bis auf 57 überweisen alle 430 Eltern, ohne Mahnung. Miethke mahnt nicht. Andere zahlen halt etwas mehr. Mit 50000 Euro lässt sich schon was anfangen. So wurden jetzt für 4000 Euro so genannte Pensenbücher gedruckt. Es gibt sie für alle Schulstufen. Die Schüler überprüfen damit, was sie am Ende der jeweiligen Stufe können und können sollten. Mit den Pensenbüchern legen sie erst einmal vor sich selbst Rechenschaft ab. Dann erhalten die Lehrer die Abrechnung. Auch in der aktuellen Debatte über Bildungsstandards haben die Potsdamer also etwas vorzuweisen. „Aber abgerechnet wird am Ende, und die Schüler müssen immer wissen, was wir von ihnen verlangen“, mahnt die Schulleiterin. Sie fürchtet, dass sich über die Standards wieder die deutsche Angst vor der Angst durchsetzt, kleinschrittige Vorgaben gemacht und die Schüler fest an die Hand genommen werden. „Aber man muss selber laufen lernen und dabei fallen dürfen.“ Das ist ihr Credo.

Davor allerdings hätten auch noch viele Eltern ihrer Schule Angst. Denn nach der Grundschule, die in Brandenburgs sechs Jahre dauert, melden die allermeisten ihre Kinder zum Gymnasium an. Aber immer mehr Schüler wollen nicht weg. Und manche, die zum Gymnasium gehen, kommen wieder; wie kürzlich ein Junge, der eigentlich krank, vielleicht auch nur schulkrank war. Eines Morgens ging er in die Montessori-Schule und fragte, ob er sich im Flur an einen Tisch setzen könne, um dort an seinen Schulaufgaben zu arbeiten. Und was meint zu all dem das Schulamt? „Besuche in dieser Schule sind für mich eine Erholung“, sagt der Schulrat Karl-Josef Lenz.


(c) DIE ZEIT 08.05.2003 Nr.20



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